Born to Run: Ein vergessenes Volk und das Geheimnis der besten und glücklichsten Läufer der Welt (German Edition)
honorieren. Die Ergebnisse bewirkten auf Vigils Seite keine Sinnesänderung: Sie war durchschnittlich.
Aber Deenas Interesse stieg mit dem Grad der Ablehnung durch Coach Vigil. In Vigils Büro hing eine Zauberformel für schnelles Laufen, die nach Deenas Ansicht absolut nichts mit Laufen zu tun hatte: Da standen Sachen wie »Praktiziere den Überfluss, indem du etwas zurückgibst« und »Verbessere deine persönlichen Beziehungen« und »Sei deinem Wertesystem treu«. Auch Vigils Ratschlag für den Speisezettel hatte überhaupt nichts mit Sport oder Wissenschaft zu tun. Seine Ernährungsstrategie für einen hoffnungsvollen Marathonolympioniken sah so aus: »Iss wie ein armer Mensch.«
Vigil schuf sich seine eigene kleine Tarahumara-Welt. Er wollte sein Bestes tun, um die Copper Canyons nach Colorado zu holen, bis er seiner Verpflichtungen hier ledig war und sich selbst in den Canyons niederlassen konnte. Wenn Deena auch nur daran denken wollte, unter Vigils Anleitung zu trainieren, dann sollte sie auch bereit sein, wie die Tarahumara zu trainieren. Das bedeutete sparsames Essen, und die Stärkung der Seele war ebenso wichtig wie der Aufbau der körperlichen Kraft.
Deena hatte verstanden und konnte es kaum erwarten loszulegen. Coach Vigil war der Ansicht, dass man eine starke Persönlichkeit werden musste, bevor man eine starke Läuferin werden konnte. Was hatte sie also zu verlieren? Vigil beschloss widerwillig, ihr eine Chance zu geben. Im Jahr 1996 begann ihr Training nach seinem von Tarahumara-Einflüssen geprägten System. Innerhalb eines Jahres war die Möchtegernbäckerin auf dem Weg zur absoluten Spitzenklasse in der Geschichte des Langstreckenlaufs in Amerika.
Sie gewann die Landesmeisterschaft im Querfeldeinlauf und distanzierte dabei das Feld, und dann brach sie die US-Rekorde auf den Strecken von drei Meilen bis zum Marathon. Bei den Olympischen Spielen 2004 in Athen ließ Deena auch die Marathonweltrekordlerin Paula Radcliffe hinter sich und gewann die Bronzemedaille, die erste olympische Medaille für das amerikanische Marathonteam seit 20 Jahren. Fragt man Joe Vigil nach Deenas Leistungen, wird jedoch die Auszeichnung als »Humanitarian Athlete of the Year«, die sie 2002 erhielt, weiter oben auf der Liste stehen.
Coach Vigil wurde Stück für Stück weiter in die amerikanische Langstreckenlaufszene hineingezogen – und damit auch immer weiter weg von seinen Plänen in Sachen Copper Canyon. Vor den Spielen 2004 bat man ihn, weit droben in den kalifornischen Bergen, in Mammoth Lakes, ein Trainingslager für die Olympiakandidaten einzurichten. Es war eine Riesenarbeit für einen 75 Jahre alten Mann, und Vigil zahlte seinen Preis: Ein Jahr vor den Olympischen Spielen erlitt er einen Herzinfarkt und musste sich einer dreifachen Bypass-Operation unterziehen. Vigil war klar: Seine letzte Chance, von den Tarahumara zu lernen, war definitiv vertan.
Damit blieb weltweit nur noch ein Forscher übrig, der die geheime Kunst des Tarahumara-Laufens studierte: Caballo Blanco, dessen Erkenntnisse nur in seinem Muskelgedächtnis archiviert waren.
Mein Artikel löste bei seinem Erscheinen in Runner’s World zwar ein gewisses Interesse an den Tarahumara aus, sorgte aber nicht gerade für einen heftigen Andrang von Elitegeländeläufern, die unbedingt an Caballos Rennen teilnehmen wollten. Die Zahl der Interessenten war, um es genau zu sagen, kleiner als eins.
Das mochte zum Teil mein Fehler gewesen sein. Für mich war es unmöglich, Caballo wahrheitsgemäß zu beschreiben, ohne das Wort »ausgezehrt« zu verwenden oder zu erwähnen, dass die Tarahumara ihn als »etwas merkwürdig« bezeichneten. Es spielte keine Rolle, wie sehr einen die Aussicht auf ein solches Rennen möglicherweise anzog: Man musste es sich schon zweimal überlegen, ob man sein Leben einem mysteriösen Einzelgänger mit einem Fantasienamen anvertraute, dessen engste Freunde in Höhlen hausten und Mäuse aßen, aber dennoch ihn für die fragwürdige Gestalt hielten.
Auch die Tatsache, dass nur mit großer Mühe herauszufinden war, wo und wann denn das Rennen nun tatsächlich stattfinden sollte, war wenig hilfreich. Caballo hatte zwar eine Website eingerichtet, aber der Austausch von Nachrichten mit ihm glich in etwa dem Warten auf eine Flaschenpost, die an einem bestimmten Strand auflaufen sollte. Caballo musste rund 50 Kilometer Bergstrecke hinter sich bringen und einen Fluss durchwaten, um in den winzigen Ort Urique zu gelangen, wo er
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