Born to Run: Ein vergessenes Volk und das Geheimnis der besten und glücklichsten Läufer der Welt (German Edition)
Caballo nicht warten würde. Für ihn war die Entscheidung, ob er lieber uns verpassen oder die Tarahumara versetzen sollte, schon gefallen.
»Ihr anderen müsst einfach schon vorausgehen«, sagte ich zu Eric, als ich ins Schlafzimmer zurückkam. »Luis’ Vater spricht Spanisch, also kann er euch nach Creel bringen. Ich werde mit diesen beiden nachkommen, sobald sie wieder gehen können.«
»Wie finden wir Caballo?«
»Ich werdet ihn erkennen. Er ist unverwechselbar.«
Eric dachte kurz nach. »Meinst du nicht, dass ich die beiden mit einem Eimer voll Eiswasser wachbekommen könnte?«
»Ein verführerischer Gedanke«, sagte ich. »Aber so, wie es jetzt aussieht, ist mir lieber, wenn sie schlafen.«
Etwa eine Stunde später hörten wir Geräusche im Badezimmer. »Hoffnungslos«, brummelte ich und stand auf, um nachzusehen, wer diesmal kotzte. Stattdessen sah ich Billy, der sich in der Dusche einseifte, und Jenn, die sich die Zähne putzte.
»Guten Morgen«, sagte Jenn. »Was ist mit meinem Auge passiert?«
Eine halbe Stunde später saßen wir sechs wieder im Hotelbus und rauschten durch die feuchten morgendlichen Straßen von El Paso in Richtung mexikanische Grenze. Wir mussten nach Ciudad Juárez hinüber und dann durch die Wüste von Chihuahua, von Bus zu Bus wechselnd, bis zum Rand der Barrancas fahren. Selbst wenn wir Glück hatten, standen uns mindestens 15 Stunden ohne Pause in klapprigen mexikanischen Bussen bevor, ehe wir Creel erreichten.
»Dem Mann, der mir ein Mountain Dew bringt, gehört mein Körper«, krähte Jenn mit geschlossenen Augen und presste ihr Gesicht gegen die kühlende Scheibe des Fahrzeugs. »Und der von Billy.«
»Wenn sie so laufen, wie sie feiern, haben die Tarahumara keine Chance«, murrte Eric. »Wo hast du die beiden aufgetrieben?«
22
Jenn und Billy lernten sich im Sommer 2002 kennen, nachdem Billy sein erstes Studienjahr an der Virginia Commonwealth University abgeschlossen hatte und in seine Heimatstadt zurückgekehrt war, um in Virginia Beach als Rettungsschwimmer zu arbeiten. Als er eines Morgens an seinem Standort zum Dienst erschien, stellte er fest, dass Billy Bonehead mal wieder mehr Glück als Verstand gehabt hatte.
Seine neue dienstliche Partnerin war ein im wirklichen Leben angekommener Corona-Werbespot, eine Schönheit, die in allen Bonehead-Punktekategorien Höchstwerte erreichte: Sie war eine Surferin, ein heimlicher Bücherwurm und ein hartgesottenes Partygirl. Und die Motorhaube ihres uralten Mitsubishi zierte eine lebensgroße Silhouette des Gonzo-Journalisten Hunter S. Thompson, der mit einer 44er-Magnum auf ein imaginäres Ziel anlegte.
Doch Jenn nervte ihn nahezu von Anfang an. Sie hatte es auf Billys University-of-North-Carolina-Baseballkappe abgesehen und ließ einfach nicht locker. »Mann!«, sagte Jenn. »Ich will die Kappe haben.« Sie hatte ein Jahr lang an der UNC studiert, war dann aber ausgestiegen und nach San Francisco gezogen, um dort Gedichte zu schreiben. Wenn es also an diesem Strand so etwas wie karmische Gerechtigkeit gab, dann sollte sie mit dem Tar-Heels-Accessoire rumlaufen, nicht irgendein Surferknabe, der die Kappe nur brauchte, damit ihm seine hübschen Stirnlocken nicht in die Augen fielen …
»In Ordnung!«, platzte Billy heraus. »Sie gehört dir …«
»Super!«
»Wenn«, und jetzt folgte die Bedingung: »… du mit nacktem Hintern den Strand abläufst.«
»So gut wie abgemacht, Mann«, spottete Jenn. »Gleich nach der Arbeit.«
Billy schüttelte den Kopf. »Nein. Jetzt gleich.«
Wenige Augenblicke später erfüllten Gejohle und Jubelrufe die Strandpromenade, als Jenn aus einem Toilettenhäuschen stürmte und ihre Rettungsschwimmerkleidung achtlos hinter sich warf. Yeah, baby! Sie schaffte es bis zum nächsten, einen Häuserblock entfernten Rettungsschwimmerposten, drehte um und lief noch mal mitten durch Mütter- und Kinderscharen, die sie eigentlich, unter anderem, vor dem Anblick nackter, durchgedrehter Collegeaussteiger bewahren sollte. Erstaunlicherweise wurde Jenn nicht festgenommen. (Dazu kam es erst später, als sie den Lastwagen ihres Rettungsschwimmer-Captains lahmlegte, indem sie eine lebende Krabbe unter der Motorhaube setzte.)
In ruhigeren Augenblicken redeten Jenn und Billy über große Wellen und bedeutende Bücher. Jenn verehrte die Beatnik-Schriftsteller so sehr, dass sie, falls sie je am College weitermachen und einen Abschluss erwerben sollte, später an der Jack Kerouac School of Disembodied
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