Born to Run: Ein vergessenes Volk und das Geheimnis der besten und glücklichsten Läufer der Welt (German Edition)
Typ.
»Willst du noch ein bisschen Pizza?«, fragte Billy.
»Bah. Ausgeschlossen.«
»In Ordnung. Bist du bereit?«
»Alles klar.«
Die beiden machten sich auf den Weg. Jenn lief schweigend, sie spürte immer noch diese furchtbare Müdigkeit und überlegte, ob sie zur Versorgungsstation zurückkehren und aussteigen sollte. Billy hielt sie durch seine bloße Gegenwart im Rennen. Jenn kämpfte eine Meile lang, dann noch eine, und dann geschah etwas Seltsames: Ihre Verzweiflung verwandelte sich in Begeisterung, sie entwickelte das Gefühl, dass es so verdammt cool war, bei einem glutroten Sonnenuntergang diese erstaunliche Wildnis zu durchqueren, sich frei und nackt und schnell zu fühlen, und ein leichter Wind im Wald kühlte die schwitzende Haut.
Gegen 22 Uhr 30 an jenem Abend hatten Jenn und Billy alle anderen Waldläufer überholt – bis auf einen. Jenn kam nicht einfach nur ins Ziel. Sie war Zweite in der Gesamtwertung, die schnellste Frau auf dieser Strecke, und sie unterbot den alten Rekord um drei Stunden (ihre Rekordzeit von 17 Stunden und 34 Minuten hat bis heute Bestand). Ein paar Monate später wurde die nationale Rangliste veröffentlicht, und Jenn stellte fest, dass sie jetzt zu den drei besten 100-Meilen-Läuferinnen im Land gehörte. Wenig später stellte sie eine Weltbestleistung auf: Ihre 14 Stunden und 57 Minuten beim Rocky Raccoon 100 waren – und bleiben – die schnellsten 100 Meilen auf unbefestigten Pfaden, die weltweit jemals für eine Frau gestoppt wurden.
In jenem Herbst erschien in der Zeitschrift UltraRunning ein Foto. Es zeigt Jenn im Ziel eines 30-Meilen-Rennens irgendwo in einer abgelegenen Gegend Virginias. An ihrer Leistung (ein dritter Platz) oder Aufmachung (schlichte schwarze Shorts, schlichter schwarzer Sport-BH), ja sogar an der Fotografenarbeit (das Foto ist unterbelichtet und grob geschnitten) ist nichts Erstaunliches. Jenn kämpft hier nicht bis zum bitteren Ende mit einer Rivalin und eilt auch nicht mit der stählern-unerschütterlichen Miene eines Nike-Models über einen Berggipfel noch hechelt sie mit herzzerreißender Entschlossenheit im Blick dem Ruhm entgegen. Alles, was sie hier zeigt, ist … ihr Laufen. Sie läuft – und sie lächelt dabei.
Aber dieses Lächeln ist seltsam bewegend. Man sieht deutlich, dass sie gewaltigen Spaß an der Sache hat, als gäbe es nichts auf der Welt, was sie lieber täte, und auch keinen anderen Ort, an dem sie mehr Freude am Laufen hätte als hier, auf diesem einsamen Trail inmitten der Wildnis der Appalachen. Sie ist zwar eben erst knapp 50 Kilometer gerannt, wirkt aber so leichtfüßig und sorglos, ihre Augen funkeln, und ihr Pferdeschwanz wackelt wie ein Trikot in der Faust eines triumphierenden brasilianischen Fußballspielers. Die nackte Freude am eigenen Tun ist unverkennbar; sie zaubert ein Lächeln auf ihre Lippen, das so ehrlich und ungeschützt ist, dass man den Eindruck gewinnt, sie sei fest im Griff künstlerischer Inspiration.
Vielleicht ist sie das auch. Sobald eine Kunstform ihr Feuer einbüßt, wenn sie durch geistige Inzucht geschwächt wird und erste Grundsätze sich in altbackene Traditionen verwandeln, taucht schließlich eine radikale Randtendenz auf, jagt alles in die Luft und erschafft aus den Trümmern etwas Neues. Die jungen, ambitionierten Ultralangstreckenläufer glichen den Schriftstellern der Lost Generation in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, den Beatnik-Poeten in den 1950er Jahren und den Rockmusikern der 1960er: Sie waren arm und unbeachtet, frei von jedweden Erwartungen oder Hemmungen. Sie waren Körperkünstler, die mit der Palette der menschlichen Ausdauerfähigkeiten arbeiteten.
»Warum laufen Sie keine Marathons?«, fragte ich Jenn bei einem Telefoninterview zu den Jungen Wilden. »Glauben Sie, dass Sie sich für die Olympia-Ausscheidungsrennen qualifizieren könnten?«
»Jetzt mal im Ernst, Mann«, sagte sie. »Die Qualifikationsnorm liegt bei 2 Stunden und 48 Minuten. Das kann jeder schaffen.« Jenn konnte einen Marathon im Stringbikini unter drei Stunden laufen und sich dabei fünf Kilometer vor dem Ziel ein Bier gönnen – und das tat sie dann auch, nur fünf Tage nach einem 80-Kilometer-Geländelauf in den Blue Ridge Mountains.
»Aber was dann?«, fuhr Jenn fort. »Ich hasse diesen ganzen Hype um den Marathon. Was ist das Rätselhafte daran? Ich kenne ein Mädchen, das für die Ausscheidungsrennen trainiert, und sie hat jetzt schon jede einzelne Trainingseinheit für die nächsten
Weitere Kostenlose Bücher