Born to Run: Ein vergessenes Volk und das Geheimnis der besten und glücklichsten Läufer der Welt (German Edition)
erschien, mit federndem Schritt, aufheulend, vierbeinig, eine Art Tiermensch. Wenn das Wesen näherkam, sahen die Beobachter, dass es sich um zwei Personen handelte, die Schulter an Schulter liefen. Eine davon war eine schlanke junge Frau, die ein »Gay Pride«-Tuch auf dem Kopf und am Arm eine Fledermaustätowierung trug, doch die andere Gestalt schien, soweit man das erkennen konnte, ein Weltergewichtswerwolf zu sein, der unter dem aufgehenden Mond dahinlief.
Jenn und Billy fütterten ihren Walkman mit einem Band des »Howl« lesenden Allen Ginsberg, bevor sie zu ihren Läufen bei Sonnenuntergang aufbrachen. Sollte das Laufen nicht mehr so viel Spaß machen wie das Surfen, würden sie wieder aufhören, darauf hatten sie sich geeinigt. Also liefen sie zum Rhythmus der Beatpoesie, um in dasselbe wogende Gleiten hineinzufinden, in dasselbe Gefühl, hochgehoben und fortgetragen zu werden.
»Wunder! Ekstasen! Alles den amerikanischen Bach runter!«, riefen sie, während sie an der Brandungslinie entlangtrabten. »Neue Liebschaften! Verrückte Generation! Gestrandet auf den Felsen der Zeit!«
Ein paar Monate später: Beim Old Dominion 100 hörten die freiwilligen Helfer an der Versorgungsstation auf halber Wegstrecke Schreie durch den Wald hallen. Wenige Sekunden später kam eine junge Frau mit Zöpfen herangestürmt, schwang sich in den Handstand, ließ sich wieder auf die Füße fallen und begann mit Schattenboxen.
»Mehr hast du nicht zu bieten, Old Dominion?«, rief sie und hieb dabei in die Luft. Billy, das einzige Mitglied von Jenns Versorgungsteam, wartete schon mit ihrer Lieblingsmahlzeit nach der Hälfte der Strecke: Mountain Dew und Käsepizza. Jenn ließ das Gehopse und Gewackel sein und biss in ein Pizzastück.
Die Helfer schauten ungläubig drein. »Mach mal langsam, Schätzchen«, warnte einer. »Hunderter sind erst dann zur Hälfte geschafft, wenn man die letzten zwanzig Meilen angeht.«
»Okay«, sagte Jenn. Dann wischte sie ihren fettigen Mund an ihrem Sport-BH ab, rülpste etwas Mountain Dew heraus und rannte davon.
»Sie müssen sie dazu bringen, dass sie’s langsamer angeht«, sagte einer der Helfer an der Versorgungsstation zu Billy. »Sie liegt drei Stunden unter dem Streckenrekord.« 100 Meilen – 160 Kilometer – in den Bergen sind nicht mit irgendeinem Stadtmarathon zu vergleichen; wer dort draußen bei Dunkelheit in Schwierigkeiten gerät, braucht Glück, um heil wieder herauszukommen.
Billy zuckte nur mit den Schultern. Nach einem Jahr des Zusammenseins mit Jenn wusste er, dass sie zu absolut allem fähig war, nur nicht zur Mäßigung. Alle starken Gefühle, die sie entwickelte – Leidenschaft, Inspiration, Ärger, Ausgelassenheit -, drängten, selbst wenn sie sich selbst zu zügeln versuchte, unweigerlich und mit Macht nach außen. Schließlich hatte man es hier mit einer Frau zu tun, die sich dem UNC-Rugbyteam angeschlossen und dabei einen neuen Standard gesetzt hatte, der in der 170-jährigen Geschichte dieser Sportart bisher unerreichbar schien: zu wild für Rugbypartys. »Sie drehte so durch, dass Jungs aus dem Männerteam sie mehrmals niederringen und in ihr Zimmer zurücktragen mussten«, sagte Jessie Polini, ihre beste Freundin am UNC. Jenn ging immer aufs Ganze, mit Hindernissen beschäftigte sie sich erst, nachdem sie sie gerammt hatte.
Diesmal kam das große Hindernis – und der damit verbundene massive Einbruch – bei der 120-Kilometer-Marke. Es war inzwischen 6 Uhr abends. Die Sonne hatte am Himmel ihre vollständige Bahn durchlaufen, seit Jenn um 5 Uhr an jenem Morgen losgerannt war, und immer noch hatte sie fast eine volle Marathondistanz vor sich. Als Jenn auf wackligen Beinen diese Versorgungsstation anlief, war ihr nicht mehr nach Schattenboxen zumute. Sie stand vor dem Tisch mit dem Essensangebot und war vor Erschöpfung wie betäubt, zu müde zum Essen und zu benommen, um zu entscheiden, was sie sonst tun sollte. Sie wusste nur eines: Wenn sie sich jetzt hinsetzte, würde sie nicht mehr auf die Beine kommen.
»Auf geht’s, Mook!«, rief jemand.
Billy war eben erst eingetroffen und zog seine Jacke aus. Darunter trug er Surfershorts und ein Rockband-T-Shirt, von dem er die Ärmel entfernt hatte. Manche Marathonläufer sind schon hocherfreut, wenn ein Freund ihnen auf den letzten drei, vier oder fünf Kilometern Schrittmacherdienste leistet. Billy stieg jetzt für eine vollständige Marathondistanz ein. Jenns Zuversicht wuchs. Der Bonehead. Was für ein
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