Born to Run: Ein vergessenes Volk und das Geheimnis der besten und glücklichsten Läufer der Welt (German Edition)
eine ununterbrochene Klangkaskade strömte. Caballo bekam während unserer ersten 30 Sekunden in Creel mehr Konversation zu hören als sonst in einem ganzen Jahr. Ich empfand einen Anflug von Mitgefühl, aber eben nur einen Anflug. In den vergangenen 15 Stunden hatten wir uns die unsortierten Erkenntnisse von Barfuß-Ted anhören müssen. Jetzt war Caballo an der Reihe.
»… die Tarahumara waren eine GROSSE Inspiration für mich. Als ich zum ersten Mal las, dass die Tarahumara ein 100-Meilen-Rennen mit Sandalen laufen können, war das für mich so schockierend und SUBVERSIV, so gegen das eigene Gefühl von dem, was ich für NOTWENDIG hielt, wenn ein Mensch eine solche Entfernung zurücklegen wollte, ich erinnere mich noch, wie ich dachte: Was zum Teufel? Wie zum Teufel ist so etwas möglich? Das war das erste Mal, es war der erste RISS IN DER MAUER, dass die modernen Schuhhersteller VIELLEICHT doch nicht die Antworten auf alle Fragen wissen …«
Man musste Barfuß-Ted nicht einmal hören, um seine cocktailshakerartige Denkweise würdigen zu können; sein bloßer Anblick genügte schon. Sein äußeres Erscheinungsbild war eine Mischung aus einem tibetanischen Kriegermönch und Skateboard-Chic: Denim-Kickboxerhosen mit einer Zugkordel, ein hautenges weißes Tanktop, japanische Badelatschen, ein kupfernes Skelettamulett, das vor seiner Brust baumelte, dazu noch ein rotes Halstuch. Mit seinem rasierten Schädel, einem Körperbau, der an den Abschlussblock eines Hochofens erinnerte und den beweglichen, dunklen Augen, die ebenso um Aufmerksamkeit bemüht waren wie seine Stimme, sah er aus wie Onkel Fester in guter Kampfverfassung.
»Ja. Okay, Mann«, murmelte Caballo und schob sich an Ted vorbei, um den Rest der Gruppe zu begrüßen. Wir nahmen unsere Rucksäcke und folgten Caballo, der über Creels einzige Hauptstraße hinweg dem Quartier am Ortsrand zustrebte, das er für uns besorgt hatte. Nach der langen Reise hatten wir alle fürchterlichen Hunger und waren erschöpft, wir zitterten in der Abendkühle des Hochlands und wünschten uns nur noch ein warmes Bett und eine heiße Portion Frijoles aus Mamás Küche – das galt für uns alle mit Ausnahme von Ted, der glaubte, das Allerwichtigste sei zunächst die Fortsetzung der Lebensgeschichte, die er Caballo ab dem Augenblick ihrer ersten Begegnung erzählte.
Caballo war äußerst angespannt, aber er beschloss, ihn nicht zu unterbrechen. Er hatte ein paar sehr schlechte Neuigkeiten für uns und wusste noch nicht so recht, wie er sie loswerden konnte, ohne dass wir alle gleich kehrtmachten und in den nächsten Bus stiegen.
»Mein Leben ist eine kontrollierte Explosion«, sagt Barfuß-Ted gern. Er lebt in Burbank auf einem kleinen Anwesen, das der Wohnung von Tom Hanks’ Kind-Erwachsenem im Film Big gleicht. Das Grundstück ist zugestellt mit kaugummibunten Spyder-Sportwagen, Karusselpferden, Hochrädern aus viktorianischer Zeit, alten Jeeps, Zirkusplakaten, einem Salzwasser-Swimmingpool und einem Badezuber, der von einem Exemplar einer in ihrem Bestand gefährdeten Wüstenschildkrötenart bewohnt wird. Anstelle einer Garage gibt es zwei riesige Zirkuszelte. In dem einstöckigen Bungalow herrscht ein reges Kommen und Gehen, an dem eine Reihe von Hunden und Katzen beteiligt ist, außerdem eine Gans, ein zahmer Spatz, 36 Brieftauben und einige seltsame asiatische Hühnchen mit Krallen, die von pelzartigen Federn bedeckt sind.
»Ich habe dieses sinnschwere Heidegger-Zitat vergessen, aber es ist das eine, das bedeutet: Ich bin eine Verkörperung dieses Ortes«, sagt Ted, obwohl ihm der Ort überhaupt nicht gehört. Er ist im Besitz seines Cousins Dan, eines technischen Genies und Autodidakten, der ganz aus eigener Kraft einen weltweit führenden Betrieb für die Restaurierung von Karussells aufgebaut hat. »Dita Von Teese strippt auf einem unserer Pferde«, sagte Ted. »Christina Aguilera nahm eines auf Tournee mit.« Dan erlebte vor einigen Jahren eine bittere Scheidung, und Ted kam damals zu dem Ergebnis, mehr Ted sei das, was sein Cousin jetzt am dringendsten brauche, also stand er eines Tages mit Frau und Tochter und seiner ganzen Menagerie vor Dans Tür und ging nie wieder weg. »Dan verbringt den ganzen Tag mit großen, kalten, scheußlichen mechanischen Dingen, und wenn man ihn dann wieder zu sehen bekommt, tropft die Schmiere von seinen Fingern wie das Blut von den Krallen eines Raubvogels«, sagt Ted. »Deshalb sind wir unentbehrlich. Wenn er nicht mit mir
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