Born to Run: Ein vergessenes Volk und das Geheimnis der besten und glücklichsten Läufer der Welt (German Edition)
drei Jahre geplant! Sie macht Tempoläufe auf der Tartanbahn, und das praktisch jeden zweiten Tag. Ich könnte das nicht ertragen, Mann. Wir waren mal um 6 Uhr morgens zum Laufen verabredet, und ich hab sie dann um 2 Uhr nachts angerufen und ihr gesagt, ich hätte mich mit Margaritas zugesoffen und würde es wahrscheinlich nicht schaffen.«
Jenn hatte weder einen Trainer noch ein Trainingsprogramm; sie besaß nicht einmal eine Armbanduhr. Sie wälzte sich morgens aus dem Bett, verschlang einen Veggieburger und lief anschließend so schnell und so weit, wie sie wollte, und Letzteres pendelte sich meist bei etwa 30 Kilometern ein. Dann stieg sie auf das Skateboard, das sie anstelle eines Parkausweises erworben hatte, und rollte zu ihren Lehrveranstaltungen an der Old Dominion University in Norfolk, Virginia, wo sie vor kurzem ihr Studium wieder aufgenommen hatte und Bestnoten erhielt.
»Ich hab das noch mit niemandem ernsthaft diskutiert, weil es selbstgefällig klingt, aber ich hab mit dem Ultralangstreckenlauf angefangen, um ein besserer Mensch zu werden«, sagte mir Jenn. »Ich dachte, man käme in diesen Zenzustand, wenn man in der Lage wäre, hundert Meilen zu laufen. Man wäre der vermaledeite Buddha und würde der Welt Frieden und ein Lächeln bringen. In meinem Fall funktionierte das nicht – ich bin der gleiche Punk-Arsch wie zuvor -, aber es besteht immer die Hoffnung, dass man durch so etwas zu dem Menschen wird, der man sein will, zu einem besseren, friedlicheren Menschen.
Wenn ich zu einem langen Lauf aufgebrochen bin«, fuhr sie fort, »kommt es nur noch darauf an, den Lauf auch zu beenden. Dieses eine Mal macht mein Gehirn nicht andauernd bliepbliepbliep . Alles wird ruhiger, der pure Flow ist der einzige wahrnehmbare Vorgang. Es gibt nur mich, die Bewegung und das Vorwärtskommen. Genau das liebe ich – einfach eine Barbarin sein und durch den Wald laufen.«
Jenn zuzuhören war wie eine Zwiesprache mit dem Geist von Caballo Blanco. »Es ist unheimlich, Sie klingen fast genauso wie ein Typ, den ich in Mexiko kennengelernt habe«, sagte ich ihr. »In ein paar Wochen reise ich da hin, zu einem Rennen, das er veranstaltet, und Tarahumara-Läufer sind mit dabei.«
»Ausgeschlossen!«
»Scott Jurek ist vielleicht auch dort.«
»Sie verscheißern mich!«, rief der Buddha in spe. »Echt wahr? Können mein Freund und ich mitkommen? Ach nein. Scheiße! In dieser Woche haben wir Halbjahresprüfungen. Ich werd ihn bearbeiten müssen. Geben Sie mir bis morgen Zeit, okay?«
Am folgenden Morgen erhielt ich die versprochene Nachricht von Jenn:
Meine Mom glaubt, dass Sie ein Serienmörder sind, der uns in der Wüste umbringen wird. Ist das Risiko wert, total. Also, wo können wir Euch Leute treffen?
23
Es war schon deutlich nach Sonnenuntergang, als unser schnaufender Bus Creel erreichte, er kam wackelnd zum Stehen, mit einem Zischen der Bremsen, das wie ein Seufzer der Erleichterung klang. Draußen, vor dem Fenster, entdeckte ich Caballos geisterhaften alten Strohhut, der durch die Dunkelheit auf uns zuwackelte.
Ich konnte kaum glauben, dass wir die Chihuahua-Wüste so problemlos durchquert hatten. Normalerweise waren die Chancen, über die Grenze zu kommen und dann nacheinander vier Busse zu erwischen, ohne dass einer von ihnen liegenblieb oder einen halben Tag zu spät angetuckert kam, etwa so groß wie die Aussicht, an einem Spielautomaten in Tijuana etwas zu gewinnen. Bei nahezu jeder Reise, die durch Chihuahua führt, ist einem der Trost gewiss, den jemand mit der Wiederholung des örtlichen Lebensmottos anbietet: »Nichts klappt wie geplant, aber klappen tut’s immer.« Aber dieser Plan erwies sich, jedenfalls bis hierher, als narrensicher, alkoholsicher und drogenkartellsicher.
Natürlich nur, bis Caballo auf Barfuß-Ted traf.
»CABALLO BLANCO! Das bist DU, STIMMT’S?«
Noch bevor ich in Creel aus dem Bus gestiegen war, hörte ich draußen eine Stimme, die wie eine Belagerungskanone dröhnte. »DU BIST Caballo! DAS IST SO COOL! Ich bin MONO! DER AFFE! Das bin ICH, der AFFE. Das ist mein Totemtier …«
Als ich aus dem Bus stieg, sah ich Caballo, der Barfuß-Ted mit ungläubigem Entsetzen anstarrte. Wir anderen hatten während der langen Busfahrt festgestellt, dass Barfuß-Ted so redete, wie Charlie Parker Saxofon gespielt hatte: Er verpasste keinen Einsatz und legte mit einem wahrhaft erstaunlichen Improvisationsfluss los, dabei schien er durch die Nase einzuatmen, während aus seinem Mund
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