Bosmans/Deleu 01 -Nackte Seelen
Augenschein nahm, wollte er erst kurz bei der Nachbarin von gegenüber vorbeischauen.
Die Dame war dreiundachtzig, lebte allein in ihrer großen Villa, und zwei Mal die Woche kaufte ihre Tochter für sie ein. Viel mehr hatte Deleu nicht herausgefunden.
Die alte Dame hatte die örtliche Polizeistation angerufen und gemeldet, am Mordtag sei ein Stromableser bei ihr gewesen, der ihr verdächtig vorgekommen sei. Niemand nahm sie ernst, nicht einmal Bosmans, aber Deleu wollte nichts dem Zufall überlassen.
Die Frau saß den ganzen Tag am Fenster, und obwohl ihre Augen vermutlich nicht mehr so scharf waren wie zu jener Zeit, als sie noch auf Bällen Furore machte, war ihre Aussage wichtig.
Deleu klingelte und wartete. Als niemand reagierte, klingelte er nochmals. Gerade, als er unverrichteter Dinge wieder gehen wollte, wurde endlich die Haustür geöffnet.
Mevrouw Pauwels trug einen Satin-Morgenmantel und graue Pantoffeln mit flaumigen Bommeln. Sie war klapperdürr, und die lose Haut an ihrem Hals wabbelte bei jeder Bewegung mit. Deleu fand, sie erinnere an eine Mischung zwischen Pfau und Truthahn.
»Guten Tag. Was kann ich für Sie tun?«
»Mevrouw Pauwels?«
»Ja?«
»Guten Tag, ich bin Dirk Deleu von der Kriminalpolizei. Ich hätte mich gerne kurz mit Ihnen unterhalten, im Zusammenhang mit der Familie Verbist.«
»Geht es um die Morde? Das wurde aber auch Zeit! Ich habe an dem Tag alles Mögliche erlebt, aber kein Mensch interessiert sich dafür. Tja, wenn man alt ist, wird man abgeschrieben. Sie verstehen das vielleicht nicht, aber das blüht Ihnen auch noch, junger Mann, später, wenn Sie mal alt und grau sind. Ich mag zwar alt sein, aber …«
»Sie haben also einen Stromableser auf der Auffahrt der Verbists gesehen«, unterbrach Deleu das monotone Gejammer der alten Dame. »Wann war das genau, Mevrouw Pauwels, können Sie sich an den Tag und die Uhrzeit noch erinnern?«
»Nein, nein!«, kreischte die Frau. »Diese Esel! Ich habe keinen Stromableser auf der Auffahrt gesehen, es war einer bei mir im Haus!«
»Ach, und wann war das?«, fragte Deleu.
»Na, an dem Tag, an demselben Tag, an dem die armen Leute ermordet wurden!«
»An welchem Tag also, Mevrouw Pauwels?«
»Ach, Sie glauben mir wohl nicht, was? Sie glauben, ich wüsste das nicht mehr. Da sieht man’s mal wieder. Wir alten Leute sind doch abgeschrieben in den Augen von euch jungen … jungen Rotznasen.«
Speicheltröpfchen spritzten zwischen ihren knallrot geschminkten Lippen hervor und verfehlten Deleu nur um Haaresbreite. Sie drehte heftig ihren Pantoffel hin und her und griff sich mit schmerzverzerrtem Gesicht an die Hüfte.
»Es war am zwölften November, vor genau einer Woche. Der Stromableser hat hier um halb zwei geklingelt. Und wenn Sie mir nicht glauben, dann fragen Sie doch Pastor Hermans, der war bei mir zum Tee, als dieser komische Kerl auf einmal vor meiner Tür stand.«
»Hat der Pastor ihn auch gesehen?«
»Ja, natürlich, allerdings nur ganz kurz, denn er ging, als der junge Kerl hereinkam. Ein Rein und Raus ist das bei mir, das können Sie sich gar nicht vorstellen. Ich komme ja nicht mal mehr zum Essenkochen.«
Deleu, der sich gründlich informiert hatte, wusste, dass die Frau einsam war und jeden Tag Essen auf Rädern erhielt. Mevrouw Pauwels mochte in einer großen Villa wohnen, reich war sie nicht, oder besser, nicht mehr. Ihre Kinder hatten sie ausgezogen bis aufs Hemd. Deleu empfand auf einmal Mitleid mit der aufgeregten Alten und entschuldigte sich. Sehr gut, dass sie sich an das genaue Datum erinnere. Ja, an ebendiesem Tag seien die Morde geschehen.
»Ja, ja, schon gut, kommen Sie ruhig rein.«
Deleu folgte der rüstigen Dame ins Wohnzimmer. Sie lud ihn ein, sich zu setzen, und fragte, ob er eine Tasse Tee wolle. Zwar graute Deleu bei dem Gedanken an vergilbte Teetassen in Silberhaltern mit den Resten von zwanzig Jahren treuer Dienste in den Henkelritzen, aber er nahm ihre Einladung an.
Während Mevrouw Pauwels in der Küche herumwirtschaftete, schaute er sich aufmerksam um. Das düstere Wohnzimmer mündete in eine »gute Stube«, wie sie alte Leute häufiger besitzen. Sie war das Heiligtum des Hauses, der Raum, in dem sämtlicher Nippes drapiert war und wo die Kinder nicht spielen durften. Deleu stand auf und ging hinein. Direkt am Fenster stand ein bequemer Plastikgartenstuhl, gepolstert mit Kissen und mit einer flauschigen Decke am Fußende.
Ganz offensichtlich verbrachte Mevrouw Pauwels hier den
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