Bosmans/Deleu 01 -Nackte Seelen
überlegt. Es war zu voll. Als er unauffällig hinausschlüpfen wollte, hatte Maggie ihn allerdings bemerkt und ihn ihrerseits angesprochen. Er hatte sie mit der Ausrede abgewimmelt, er müsse noch einen Hausbesuch machen, und dann hatte er geduldig im Gebüsch auf der anderen Straßenseite auf sie gewartet.
Auf dem ganzen Weg, während er von Strauch zu Strauch schlich, damit sie ihn nicht sah, hatte seine Phantasie ihm Streiche gespielt. Seine Gedanken flackerten wie feurige Zungen in seinem Kopf. Er hörte wieder diese Stimmen, sie verwirrten ihn.
»Sie wohnt im zweiten Stock, du wirst es nicht schaffen.«
»Mach sie verrückt vor Angst!«
»Schneid erst der Alten die Kehle durch!«
»Immer mit der Ruhe, ich habe alle Zeit der Welt …«, ächzte Hermans heiser.
»Du bist zu aufgeregt … Du bist ein Nichts … Du hast Angst vor deiner eigenen Courage …«
»Nein!«, schrie Hermans schrill. »Ich habe Max mit einer Vase den Schädel eingeschlagen … Er sollte mir dankbar sein!«
»Du lügst … Er lügt … Er lügt schon wieder …«
»Nein, ihr dreckigen Gestalten, macht, dass ihr wegkommt! Max war ein Nichts. Max war ein dreckiger Schwuler, der versuchte, sich einer Gottheit in den Weg zu stellen … Ich bin dabei, ein Gott zu werden … Ich habe es fast geschafft …«
Hermans sank auf die Knie und schlug die Hände vors Gesicht. Er stand kurz vor dem Zusammenbruch, als er die himmlische Stimme hörte. Diese eine Stimme, vor der alle anderen flohen,
seine
Stimme: »Tag der Rache, Rache der Sünden, wird das Weltall sich entzünden, wie Sibyll und David künden.«
Josef Hermans lachte schluchzend und begrub das Gesicht im weichen Schlamm.
»Welch ein Graus wird sein und Zagen, wenn der Richter kommt, mit Fragen streng zu prüfen alle Klagen. Laut wird die Posaune klingen, durch der Erde Gräber dringen, alle hin zum Throne zwingen.«
Josef Hermans erhob die Arme zum Himmel, und seine Augen glänzten wie im Fieber.
»Schaudernd sehen Tod und Leben sich die Kreatur erheben, Rechenschaft dem Herrn zu geben.«
»Mors stupebit et natura cum resurget creatura, iudicanti responsura«,
murmelte Josef Hermans heiser. Er kroch aus den Büschen, richtete sich auf und überquerte die Straße, ohne nach rechts oder links zu schauen.
»Hallo?«
»Mevrouw Uyttebroeck?«, krächzte es durch den Hörer der Sprechanlage.
»Ja?«
»Mevrouw Maggie Uyttebroeck?«
»Ja, das bin ich. Wer ist da?«
»Polizei, Mevrouw Uyttebroeck, bitte machen Sie auf, ich habe eine wichtige Nachricht für Sie.«
»Eine Nachricht?«
Der Mann räusperte sich. »Hmm, äh, wie soll ich sagen … Es geht um Ihre Mutter …«
Den Rest der Nachricht bekam Maggie nicht mehr mit, denn sie betätigte den automatischen Türöffner und starrte mit entsetztem Blick den Hörer an. Ihre Welt brach zusammen. Der Hörer fiel ihr aus der Hand und prallte mit einem trockenen Schlag gegen die Wand. Maggie fuhr sich durch die Haare und ging mit starrem Blick zum Schaukelstuhl. Sie schloss die Augen und schaukelte mit einem bitteren Zug um den Mund auf und ab. Jetzt hatte sie auch Mama umgebracht.
Nach etwa drei Minuten kam Maggie wieder zu sich, öffnete die Wohnungstür und schaute hinaus. Im Treppenhaus war niemand zu sehen.
»Hallo? Ist da jemand?«
Maggie sah nichts und hörte keinen Laut. Sie ließ die Tür einen Spalt offen stehen, drehte sich um, eilte zum Telefon und wählte die Nummer ihrer Mutter. Ihre Kehle war vor Angst wie zugeschnürt. Nach dem zweiten Freizeichen hörte sie die Stimme ihrer Mutter. Maggies Herz setzte einen Schlag aus.
»Mama?«
»Maggie?«
»Ja, Mama, ich bin’s.«
»Maggie, wo bist du denn?«
»Zu Hause, Mama.«
Es blieb still in der Leitung.
»Mama?«
»Ja, Kind?«
»Geht es Rubbels gut?«
»Nein, mein Kind, Rubbels weint und Mama auch. Mein Gott, wo bist du, Maggie? Was ist denn los?«
»Ach, ich weiß nicht mehr ein noch aus.«
Maggie weinte leise. Tränen des Kummers und des Glücks.
»Ich komme, Maggie. Ich komme zu dir. Wo bist du, Kind? Bitte, ich will dir doch nur helfen!«
»Ja, bitte komm, Mama. Keldermansvest Nummer siebenundachtzig.«
Maggie wartete auf eine Antwort, hörte aber nur ein trockenes Klicken. Schon als sie den Hörer auflegte, bereute sie ihre Entscheidung. Sie zitterte, merkte, dass die Tür noch immer offen stand, und ging hin. An der Tür zögerte sie. Wo war der Polizist? Wer war er? Sie dachte nach und erwog, nochmals anzurufen, doch vermutlich war
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