Bosmans/Deleu 01 -Nackte Seelen
ihre Mutter schon mit dem Fahrrad unterwegs zu ihr.
Maggie schaltete das Licht im Flur ein und ging vorsichtig die Treppe hinunter. Sie blieb vor der Tür von Mevrouw De Vriese stehen, der freundlichen alten Dame, die unter ihr wohnte. Sollte sie klingeln? Sie tat es nicht und ging weiter bis in den Eingangsflur. Das Licht erlosch. Ängstlich tastete Maggie nach der Wand. Es dauerte eine Ewigkeit, bis sie den Schalter fand und das Licht wieder ansprang.
Die Haustür war zu. Maggie zog an der Klinke – die Tür saß fest im Schloss. Achselzuckend und erleichtert dachte sie, dass das eben wohl nur ein blöder Witzbold gewesen war, und kehrte in ihre Wohnung zurück. Sie ging in die Küche, schaltete das Radio ein, schlürfte von ihrem Tee und rieb sich die müden Augen. Was sollte sie ihrer Mutter vorlügen? Oder sollte sie ihr einfach die Wahrheit sagen? Ihr alles beichten? Nein, völlig undenkbar. Es würde Mama umbringen. Geldsorgen – das war die Lösung! Dieses Argument würde ihre Mutter schlucken.
Maggie summte einen aktuellen Hit mit. Sie fand, sie habe durchaus Talent zum Singen, bis das Radio ausfiel und sie nur noch ihre schrillen Misstöne hörte. Sie verstummte augenblicklich und ging, wieder um eine Illusion ärmer, zum Radio.
Der Stecker steckte, und als sie dem Gerät mit der flachen Hand einen Klaps versetzte, erwachte es wie durch ein Wunder wieder zum Leben. Kopfschüttelnd setzte sie sich an den Küchentisch und trank genüsslich von ihrem Tee. Doch als sie sich gerade ein Plätzchen aus dem Küchenschrank holen wollte, fiel das Licht aus.
Maggie fluchte, griff nach einem Küchenhandtuch und versuchte, an die Glühbirne zu kommen. Sie schob den Tisch beiseite und stellte sich auf einen Stuhl. Sie schraubte die Birne ein Stück heraus und wieder hinein, aber in der Küche blieb es dunkel. Sie ging ins Wohnzimmer und holte eine Taschenlampe aus ihrem Koffer. Kaum stand sie wieder auf dem Stuhl, leuchtete das Licht in der Küche auf und das im Wohnzimmer fiel aus.
Maggie kam sich vor wie in einem Geisterhaus und fragte sich, ob es an den Sicherungen liegen könne. Sie ging mit der Taschenlampe ins Wohnzimmer.
Kaum war sie im Wohnzimmer, erlosch erneut das Licht in der Küche. Maggie schaltete die Taschenlampe aus und dachte nach. Angst schnürte ihr die Kehle zu. Sie holte tief Luft und lauschte angestrengt. Was nun? Von Sicherungen hatte sie keine Ahnung. Sie wusste nicht mal, wo sich der Sicherungskasten befand. Was sollte sie tun? Jemanden von den Stadtwerken anrufen? Das käme bestimmt sehr teuer. Funktionierte das Telefon überhaupt noch? Martha, Martha De Vriese, die würde ihr bestimmt helfen!
Maggie schaltete ihre Taschenlampe ein und ging zur Tür. Sie zögerte, kehrte noch einmal um, nahm den Telefonhörer ab und wählte die Eins. Das Freizeichen ertönte wieder und wieder, und Maggie hoffte inständig, dass Martha zu Hause war. Sie wusste, dass die freundliche alte Dame regelmäßig außer Haus war, weil sie ihren Sohn besuchte.
Hatte bei ihrer Heimkehr im Erdgeschoss Licht gebrannt? Als sie gerade voller Verzweiflung wieder auflegen wollte, kam endlich das ersehnte: »Hallo?«
»Martha?«
»Ja?«
»Martha, ich bin’s, Maggie.«
Schweigen.
»Ihre Nachbarin, die über Ihnen wohnt.«
»Ach … ja, ja … Was ist denn los, mein Kind?«
»Brennt bei Ihnen das Licht, Martha?«
»Ja, warum?«
»Bei mir ist überall das Licht ausgefallen, und das Radio funktioniert auch nicht richtig.«
»Das ist aber komisch. Es ist schon ein-, zweimal vorgekommen, dass in der ganzen Gegend der Strom ausgefallen ist, aber das ist Jahre her. Das erste Mal war 1979 , da ist ein Lastwagen gegen einen Hochspannungsmast gefahren, und beim zweiten Mal wurde der Strom abgeschaltet, weil ein neues Kraftwerk ans Netz ging, das war, glaube ich, 1983 , ja, dreiundachtzig, in dem Jahr, in dem Tante Amélie gestorben ist.«
Martha holte tief Luft. Als Maggie nicht reagierte, sagte sie: »Aber damit ist dir wohl nicht geholfen, was, mein Kind?«
»Äh … nein.«
»Tja«, sagte Martha De Vriese, »das sind bestimmt die Sicherungen. Ich habe den Vermieter schon hundert Mal aufgefordert, diese antiken Dinger endlich mal zu ersetzen, aber bei dem stößt man auf taube Ohren. Weißt du was? Komm runter, dann gehen wir mal zusammen nachsehen. Der Sicherungskasten hängt im Gemeinschaftskeller.«
»Ja, danke, ich komme gleich. Soll ich irgendetwas mitbringen?«
»Nein, nein, nur deinen gesunden
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