Bosmans/Deleu 02 -Totenspur
von Vicky Versavel. Rasch kippte sie den Rest Tee hinunter, verbrannte sich dabei die Zunge und stand auf.
Nicht als Letzte die Kneipe verlassen, Michelle. Das wäre zu auffällig.
Draußen kondensierte ihr Atem in dunstigen Schleiern. Sie beschloss, zuerst einen Spaziergang zu unternehmen und von einer öffentlichen Telefonzelle aus Vicky Versavel anzurufen. Die gute Frau machte sich vermutlich schon die größten Sorgen, und vielleicht war bei ihr ja doch noch was zu holen. Sie brauchte dringend eine neue Identität, und irgendwie ähnelte ihr die dralle Blondine tatsächlich ein wenig.
Selbst auf der Haupteinkaufsstraße war keine Menschenseele zu sehen, als Michelle an den Schaufenstern entlangflanierte. Nicht besonders aufregend, nirgendwo Haute Couture. Auf einmal wurde ihr klar, warum Vicky Versavel sich in dieser Stadt wohlfühlen konnte. Diese Versagerin konnte nicht mal ein exklusives Armani-Stück von einem durchschnittlichen Emporio-Teilunterscheiden. Nadine Versluys war da aus ganz anderem Holz geschnitzt gewesen, sie hatte eine Wohnung an der Küste besessen und es verstanden, sich geschmackvoll zu kleiden. Sie hatte wirklich Klasse gehabt. Viel zu bescheiden, aber durch und durch ein Klasseweib. Diese Vicky Versavel hingegen – was für ein abstoßendes Geschöpf!
Im Stadtpark von Mechelen suchte sich Michelle Bekaert alias Françoise Bourgeois alias Nadine Versluys eine einigermaßen saubere Bank. Vorsichtshalber holte sie dennoch rasch einen seidenen Foulard aus ihrer Delvaux-Handtasche, legte ihn unter und schlug den üppigen Kragen ihres edlen Kaschmirmantels hoch. Ihre Gedanken schweiften zu ihrer neuen Mitbewohnerin und ihrem zukünftigen Ego ab: Vicky Versavel. Dieser erste Restaurantbesuch, dieses deprimierende Essen in dieser Kaschemme. Schon da hatte sie Vickys Fassade durchschaut: Es war alles nur schöner Schein, und sie war bei weitem nicht so reich, wie sie nach außen hin gerne vorgab.
Michelle ballte die Fäuste. Sie hasste Menschen, die anderen etwas vormachten. Vicky Versavel mochte in einer großen Villa wohnen, mit vier Bädern, Sauna und Fitnessraum, aber das war auch schon alles, was sie besaß. Ihr Vater, ein Exklusivimporteur von Luxusschnellbooten, hatte ihr nach seinem Tod nicht nur das Haus, sondern auch einen Berg Schulden hinterlassen. Der Mann hatte ebenso schnell gelebt, wie seine Boote über das Wasser flitzten. Alles, was er verdiente, gab erin Windeseile wieder für die aberwitzigsten Luxusgüter aus.
Der Ehemann von Vicky, der wohl ebenfalls auf deren angeblichen Reichtum spekulierte, hatte sich schon nach fünf Monaten Ehe wieder aus dem Staub gemacht, und seitdem hatte Vicky von Männern die Nase voll. Von Frauen wollte sie Gott sei Dank auch nichts wissen. Sie liebte nur noch ihre hässliche Töle.
Michelles Gedanken wanderten wieder zu dem Restaurantbesuch, diesem mit großem Tamtam angekündigten Restaurantbesuch. Dafür würde sie Vicky noch die Rechnung präsentieren. Erstens war das Lokal, dessen Namen sie bereits wieder vergessen hatte, im Grunde nichts weiter als ein besseres Schnellrestaurant gewesen.
Michelle hatte bereits mit dem Schlimmsten gerechnet, als Vicky ihr ihre exklusive Ausgehkleidung vorgeführt hatte. Ein abscheulicher Anblick, wie diese Krautstampfer unter dem kurzen Rock hervorgequollen waren! Bei der Gelegenheit hatte die blöde Kuh sie gefragt, wie sie ihr neues Armani-Kostüm finde. Armani-Kostüm, du lieber Himmel! Viel zu gedeckte Farben, abgerundete Revers und nirgendwo Streifen oder Punkte auf dem keineswegs exklusiven Stoff. Emporio. Definitiv Emporio.
Und dann das Essen! Vicky hatte wahrhaftig Steak mit Pommes bestellt. Keine Vorspeise. Zu allem Übel hatte sie auch noch zweimal Pommes nachgeordert! Igitt! Was hatte sie eigentlich gegessen? Thunfischgratiné anSpargel, gefolgt von Entenbrustfilet mit Cevennen-Steinpilzen auf einem Bett von Möhrenpüree und Lauch und als Dessert den
Assiette du Chef
, ein lockeres Eiersoufflée mit Mangosauce, das – so viel musste man dem Laden lassen – durchaus genießbar gewesen war. Dabei bot das Restaurant keine wirklich exklusiven Gerichte an, und der Maître d’Hôtel war alles andere als professionell. Er hatte es nicht einmal für nötig gehalten, sie den Saint Emilion Chateau Latour Grand Cru von 1985 vorher kosten zu lassen, der obendrein recht fad schmeckte, weil er so gut wie keinen Abgang hatte.
Als es ans Bezahlen ging, schlug Vicky dann endgültig dem Fass den Boden
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