Bosmans/Deleu 02 -Totenspur
aus. Einfach armselig. Sie bezahlte doch tatsächlich mit Visa, nicht mal mit einer Platin-American-Express oder einer Eurocard Gold – nein, mit einer ordinären Visacard. Einfach armselig!
Noch nie im Leben hatte Michelle derart beschämt, erniedrigt und deprimiert ein Restaurant verlassen. Ihre Mutter früher, das war wahrlich etwas anderes gewesen.
Michelle schloss die Augen und sah ihre Mutter in ihrer ganzen Pracht wieder vor sich, in den schicksten Restaurants, eine Schmetterlingstätowierung auf dem rechten Schulterblatt und in den exklusivsten Abendroben. Mama hatte edelste Klasse besessen.
Dazu sie und ihre Schwester, piekfein ausstaffiert, beide im schlichten marineblauen Matrosenlook mit schneeweißen Kniestrümpfen und ebenso weißen Schuhen,natürlich alles von Yves Saint-Laurent. Bewundernd hatten sie zugesehen, wenn ihre Mutter wieder einmal einen Maître d’Hôtel bei einem Fehler ertappte und ihn taktvoll, aber entschieden zurechtwies.
Und dann war da noch Papa. Er war ein Bauer. Ein reicher zwar, aber dennoch ein Bauer. Mama hatte ihn nie in den Arm genommen. Sie hatte sich, ebenso wie Michelle und ihre Schwester, für den ungehobelten Erzeuger ihrer Kinder geschämt.
Es war nach einem dieser wunderbaren Restaurantbesuche geschehen. Sie und ihre Schwester lagen schon im Bett und hörten in ihrem gemeinsamen Kinderzimmer, wie sich Papa und Mama wieder einmal stritten. Michelle Bekaert zitterte. Sie bebte am ganzen Körper und schmeckte den salzigen Schweiß, der ihr von der Stirn über die Nase auf die Lippen tropfte.
Sie konnte sich an jenen Abend noch in allen Einzelheiten erinnern. Jedes einzelne Wort hatte sich in ihr Gedächtnis eingebrannt. Es war sogar eines dabei, das sie hinterher in einem dicken Wörterbuch nachschlagen musste: frigide.
»Frigide Kuh!«
»Jetzt komm ins Bett, Georges. Ich bitte dich!«
»Ich geb’s auf. Ich habe deine Launen satt! Sieh doch bloß mal in den Spiegel, Ermine!«
Dann zwei, drei trockene Schläge und ein herzzerreißendes Jammern.
»Ich kann so viel kriegen, wie ich will!«
Meine arme kleine Schwester, die mit angstverzerrtem Gesicht in ihre Bettdecke beißt und leise schluchzt.
Jetzt flossen Michelle nicht mehr die Schweißtropfen, sondern dicke Tränen über die Wangen. Tränen des Hasses, der Wut und der Trauer. Jede Einzelheit hatte sich in ihr Gedächtnis eingeprägt wie ein Brandzeichen.
Wenn sie die Augen schloss, sah sie sich selbst vor ihrem geistigen Auge, immer wieder. Wie sie dalag und ihr das Herz bis zum Hals schlug, als Papa, der ekelhaft nach Alkohol stank, zu ihrer Schwester ins Bett schlüpfte. Das Schluchzen der Schwester, das sich mit seinem Keuchen vermischte, und dazu das unaufhörliche Flehen aus Mamas Zimmer.
»Nein, Georges, bitte nicht! Georges, komm zurück!«
Dieser verhaltene Urschrei, nach dem Papa sich davonschleicht, wie er gekommen ist, heimlich und leise, und die Kleine allein zurücklässt, voller Verzweiflung.
Meine arme Schwester, die anschließend noch stundenlang vor sich hin schluchzt und kein Wort mehr spricht, und ich, wie ich mich machtlos im Bett herumwälze. Fieberhaft. Fragen … Was? Warum? Warum meine Schwester, und warum nicht ich?
Aber nicht an jenem Abend. An jenem Abend nehme ich meine kleine Schwester an die Hand, und noch bevor Papa unser Zimmer erreicht hat, schleichen wir zusammen hinunter.
Zwei ängstliche kleine Wesen, versteckt in den Kissen eines überdimensionalen karmesinroten Sofas.
Dann das unheilverkündende Knarren der Treppe. Das Böse kommt näher! Unaufhaltsam! Unabwendbar!
Wir Hand in Hand barfuß in den Keller. Dunkelheit.
Papas wütendes Gebrüll: »Wo seid ihr, ihr nichtsnutzigen Bälger?«
Keine Mama. Panik. Die Kleine starr vor Angst. Muss was tun! Letzter Ausweg. Kellertür angelehnt.
Schnell … schnell … zu schnell.
Dann ein jämmerliches Quietschen. Die Tür … Papa! Knarrende Stufen.
Schnell … schnell … zu schnell!
Meine kleine Schwester! Vor Angst weit aufgerissene Augen! Ich! Suchender Blick! Zusammen. Riesige Tiefkühltruhe. Deckel auf … hochheben … zusammen … stark. Schnell … ein kleiner Schubs … Schwester hinein … Lächeln … warm … von innen.
Papas röchelnder Atem.
Deckel zu.
Aufleuchten … schmutzig … gelb … Glühbirne.
Rennen … offene Kellertür.
Papa … blutunterlaufene Augen … Greifen, zuschlagen!
Harter, harter, harter
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