Bosmans/Deleu 02 -Totenspur
schön böse werden.« Sie nahm einen Aschenbecher vom Tisch und fing die Blutstropfen auf. Bereits nach wenigen Augenblicken hatte sich eine kleine Pfütze darin angesammelt.
Vicky Versavel wurde leichenblass, und der Schweiß rann ihr in Strömen von der erhitzten Stirn.
»Wir müssen noch ein kleines bisschen tapfer sein«, summte ihre Henkerin und hielt ihr erneut das Fläschchenmit Äther unter die Nase. »Okay, Vickybaby. Wir machen jetzt Folgendes: Hör gut zu, denn ich erkläre es dir nur einmal. Ich halte jetzt den Aschenbecher unter deine Hand. Du tauchst die Finger hinein und schreibst auf, was du zu sagen hast. Kapiert?«
Vicky reagierte wieder mit der einzigen Bewegung, die ihr möglich war: Sie zwinkerte mit dem linken Auge.
Michelle tunkte den Zeigefinger ihres Opfers in den Aschenbecher und drückte ihn gegen den Notizblock. Der zitternde Finger verursachte ihr ein wohliges Prickeln im Unterleib. Sie nahm das Blatt Papier unter dem Zeigefinger weg und las laut vor: »Pille! Das sieht aus wie ›Pille‹! Willst du eine Tablette, Vicky? Was für eine darf es denn sein?«
Das straff gespannte Seil, das an dem gebrochenen Kiefer scheuerte, trieb der Gefangenen die Tränen in die Augen. Trotz der Schmerzattacken gelang es ihr, ansatzweise den Kopf zu schütteln.
»Oder soll es vielleicht Pisse heißen?«
Vicky zwinkerte mit dem linken Auge.
»Nein, nein, so funktioniert das nicht. Du schreibst nicht deutlich genug.« Michelle stützte das kantige Kinn auf eine Hand, fuhr sich über die starre Frisur und verzog nachdenklich das Gesicht. Plötzlich hob sie beide Zeigefinger in die Luft. »Ich habe eine bessere Idee: Ich stelle dir Fragen. Willst du mit ›ja‹ antworten, zwinkerst du mit dem linken Auge, wie du es schon die ganze Zeit tust. Ich kann also davon ausgehen, dass du bisher mit allem einverstanden warst?Willst du dagegen ›nein‹ sagen, zwinkerst du mit dem rechten Auge. Verstanden?«
Vicky zwinkerte mit dem linken Auge.
»Aha, du hast es also begriffen. Kluges Mädchen! Was soll ich dich fragen? Ich weiß schon. Möchtest du, dass ich deine Fifivon ihrem Leiden erlöse?«
Vicky riss das linke Auge weit auf.
»Du antwortest nicht? Na ja, ist auch eine schwere Entscheidung. Ich lasse dir natürlich ein wenig Bedenkzeit. Ah, du zwinkerst mit dem linken Auge? Nein? Doch nicht? Ach so, du bist dir wohl nicht sicher.« Das aufgesetzte Lächeln verwandelte sich in ein fröhliches Grinsen.
Wie sehr sie sich auch anstrengte, irgendwann konnte Vicky es nicht länger aushalten und zwinkerte mit dem linken Augenlid.
»Also doch! Endlich eine Entscheidung! Ihr Wunsch sei mir Befehl.«
Während Michelle einen großen, rostigen Hammer hervorkramte, rollte Vicky vor Schmerz mit dem linken Auge, als das Seil über die zentimeterdicke Schwellung an ihrem Kiefer scheuerte.
Michelle achtete nicht im Geringsten darauf. Mit großen Schritten marschierte sie in die andere Ecke des Zimmers, schlug Fifi mit einem wohlgezielten Hieb den Schädel ein und sprang hastig zur Seite, damit der Brei auf die Wand spritzte und nicht auf ihr kanariengelbes Gucci-Kostüm. »Glück gehabt, Kleine. Du kommst glimpflich davon«, murmelte sie. »Eigentlichhätte dich die Tante noch für vorhin bestrafen müssen.«
Achtlos warf sie den blutigen Hammer auf das Sofa und ging vor der keuchenden Vicky in die Hocke. Sie tauchte deren Zeigefinger in das bereits halb geronnene Blut und drückte ihn auf den Notizblock.
»Tut weh«, stand da in großen, zittrigen Buchstaben, als Michelle ihr nach einigen Momenten das Blatt wegzog.
»Es tut weh?«, fragte sie. »Das ist wirklich schlimm. Und kein Arzt weit und breit. Tja, dann muss ich dir wohl helfen.«
Wieder wühlte sie mit beiden Händen in der Werkzeugkiste herum und kramte nach fast einer vollen Minute ein verbogenes Nagelscherchen hervor. Damit schnitt sie mit einer schnellen Bewegung die Wimpern von Vickys rechtem Auge ab. Anschließend sah sie sich nachdenklich um, ging hinüber zum Wohnzimmertisch und trank ihre Tasse Tee aus. Da war kein Geld. Nichts zu holen. Je länger sie darüber nachdachte, umso wütender wurde sie. Sie sprang abrupt auf und nahm den zierlichen Bronzeteelöffel mit.
Nachdem sie ihrem Opfer damit das rechte Auge ausgestochen hatte, knallte Vicky Versavel mit der linken Schläfe auf den Holzfußboden und verlor zum zweiten Mal an diesem Tag das Bewusstsein.
Vicky Versavel erwachte nicht von den flüchtigen Ätherdämpfen, sondern von dem
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