Bosmans/Deleu 04 -Todeswahn
Schlurfende Pantoffeln. Sein Geist wurde klar.
Was soll ich tun? Wer hilft mir? Eine Sozialarbeiterin. Aber wenn sie mir Wichtchen wegnehmen und sie in einem Heim verkümmern lassen? Oder hat sie vielleicht doch einen Vater? Was habe ich getan?
Verbist griff sich an den Kopf und steckte unsicher den Zeigefinger in den Mund. Nervös trat er von einem Fuß auf den anderen und biss sich auf den Fingernagel, bis sich dieser blau verfärbte.
Als er sich umdrehte und unverrichteter Dinge die Treppe wieder hinuntergehen wollte, ging die Tür auf, und ein rüstiger Mann um die siebzig mit einer auberginefarbenen Krawatte über dem Pullunder trat hinaus.
»He! Sie da!«, giftete er. »Was soll das hier?«
Verbist blieb reglos stehen, und seine Nackenhaare sträubten sich. An der Kuppe seines Zeigefingers hing ein heller Blutstropfen.
»Sind Sie taub? Oder wollen Sie etwa hier einbrechen?«
Verbist drehte sich um. Es dauerte eine Ewigkeit, bis der Blutstropfen hinunterfiel und auf seiner Jeans einen rotbraunen Fleck hinterließ, der sich allmählich ausbreitete.
Als er sich ratlos dem Mann zuwandte, schwoll das schwarze Auge des Alten an. Es löste sich und rann wie ein Eidotter langsam an seiner runzligen Wange herunter, unter der Würmer wimmelten. Seine Nase verformte sich, schrumpfte zusammen und schmolz weg. Bedrohliche Zähne. Verbist verzog krampfhaft das Gesicht zu dieser furchterregenden Darbietung. Die obere Zahnreihe schlug gegen die untere und verursachte ein höllisches Knirschen.
»Und? Wird’s bald?«
Verbist wandte keuchend den Blick in eine andere Richtung. Dort wucherten die fingerförmigen Blätter einer Zimmerpflanze wie große grüne Klauen.
»Küchenrolle«, krächzte er unter unmenschlicher Anstrengung.
»Wie, Küchenrolle?«, knurrte der energische alte Mann, der seine rhetorische Frage mit einer breiten Geste unterstrich. Seine runzlige Hand kam näher. Sehr nahe, wie eine riesige Fledermaus, groß und beängstigend.
»Haben … Sie … eine Rolle Küchenpapier?«
»Nein!«, erwiderte der Alte mürrisch. »Erstens benutze ich solchen Mist nicht, und zweitens unterhalte ich mich nicht mit Fremden. Guten Tag!«
»Haben Sie vielleicht Toilettenpapier?«, fragte Verbist fast flehentlich.
»Nein!«
Verbist blieb sprachlos stehen. Sein Mund klappte auf und wieder zu, verzweifelt schnappte er nach Luft. Seine Gesichtszüge verhärteten sich. Sein Mund wurde zu einer scharfen Kerbe.
Der alte Mann blickte Verbist ungerührt an. Verachtung lag in seinen alten, wachsamen Augen.
Wieder so ein mieser, dreckiger Drogensüchtiger. Die soll bloß nicht ihre verkommenen Freunde mitbringen. Ach, Chrissie!
»Sie sind doch schon Ihr ganzes Leben lang arrogant gewesen! Ihre Sorte kenne ich, Ira Levin!«, schrie Verbist, während seine Hände unkoordiniert zuckten.
Louis Goegebuer, ein von Natur aus furchtloser Mann, ballte die Fäuste. Seine Wangen liefen rot an, und seine Halsmuskeln zeichneten sich unter der faltigen Haut ab.
»Ira Levin – was soll das denn heißen, junger Mann? Warum nennen Sie mich so? Soll ich vielleicht die Polizei rufen?«
Der verwirrte Verbist sperrte die Augen weit auf und fuchtelte verzweifelt mit den Armen. Das Einzige, was er hervorbringen konnte, war: »Po… Po… Po… Po…« Die Adern an seinem Hals schwollen an, während er die Lippen aufeinanderpresste. Stockend brachte er hervor: »Entschuldigen Sie, aber an Ihrer Tür steht doch Ihr Name, Ir. L. Goegebuer.«
Er zeigte auf das Namensschild.
Das dröhnende Lachen des alten Mannes stürzte von allen Seiten auf ihn ein. Verzweifelt versuchte er, seinen Kopf zu schützen. Die Salven donnerten gegen die Wände, an die Decke, in seinen Nacken, in seine Haare. Es gab kein Entrinnen. Herman Verbist blieb reglos stehen, Verzweiflung in den ängstlichen Augen.
»Dummkopf. ›Ir.‹ ist die Abkürzung für ›Ingenieur‹, und das ›L.‹ steht für ›Louis‹.«
Plötzlich hob Herman Verbist mit gespreizten Fingern beide Hände. Eine seltsame Ruhe überkam ihn.
»Sie waren einmal Ingenieur, jetzt sind Sie nur noch der böse Nachbar.«
»Muss ich mich etwa hier vor meiner eigenen Haustür beschimpfen lassen, und das auch noch von einem Wildfremden?«
Der alte Mann schnappte nach Luft, zog den rechten Pantoffel aus und traf Verbist mit voller Wucht, doch dieser schien nicht im mindesten davon beeindruckt. Er schirmte nicht einmal seinen Kopf ab.
»Ich bin kein Fremder, ich bin Belgier«, antwortete er
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