Bosmans/Deleu 04 -Todeswahn
Zeitschrift vom Stapel, auf deren Titelbild König Albert in Galauniform prangte, blätterte geistesabwesend darin und durchdachte gleichzeitig ihre Strategie.
Sie hatten keine Zeit, sich mit Arztgeheimnissen und anderen Hindernissen herumzuschlagen.
»Setzen Sie Ihren Charme ein«, hatte Bosmans ihr geraten. Nadia warf einen Blick auf ihre Hüften und schnaubte verächtlich. Dann legte sie die Hand auf ihren Bauch, und ihr Blick wurde weicher.
Doktor Verstraete entsprach exakt den gängigen Vorstellungen über das Aussehen von Psychiatern. Seine bleichen, eingefallenen Wangen waren von einem spärlichen Bart bedeckt, der irgendwo unter seinem Kinn endete. Er trug eine Brille mit dünner Goldfassung und hatte gepflegte, schlanke Hände.
Als er Nadia Mendonck mit einem schlaffen Handschlag begrüßte, konnte sie den verborgenen Teil des Zwergenbarts erspähen. Verstraete verzog die Lippen zu einer Art Lächeln.
»Bitte folgen Sie mir, äh, Mevrouw.«
Nadia verzichtete darauf, die Bomberjacke herunterzuziehen, und folgte dem Arzt in das nüchtern eingerichtete Sprechzimmer.
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Dienstag, 25 . November – 10 Uhr 53
D eleu lauschte mit wachsendem Interesse den Auskünften des ehemaligen Lehrers.
Einmal in Fahrt gekommen, entpuppte sich der farblose Mann als guter Erzähler, und obwohl es fast zwanzig Jahre her war, erinnerte er sich noch bis ins Detail an die damaligen Lebensumstände von Herman Verbist und dessen Familie.
Der Lehrer hatte bereits ausführlich von Verbists schwerer Jugend berichtet – für Deleu die x-te Version von so vielen ähnlichen Schicksalen.
Sein Vater, ein Alkoholiker, war im Suff gegen einen Baum gefahren, als der Junge noch keine sieben war, und die Mutter, die mit dem Tod des Vaters nicht fertig wurde, musste einige Jahre später in eine psychiatrische Einrichtung eingewiesen werden.
Von da an wuchs Verbist bei seiner Großmutter auf. Eine grundanständige Frau, so bezeichnete sie Mertens, und seine bessere Hälfte, die sich inzwischen zu ihnen gesellt hatte, bestätigte seinen Eindruck.
Deleus Gedanken schweiften zu Nadia ab. Es war ein flüchtiger Gedanke, so wie täglich tausende kommen und gehen. Und wie täglich Tausende anderer Menschen auch, fragte er sich, ob jemals alles wieder gut werden würde.
Doch dann sagte Mertens etwas, das Deleus Aufmerksamkeit weckte.
»Er war immer so zurückgezogen, der Herman. Ein braver Junge, das schon, aber so in sich gekehrt. Manchmal hat er minutenlang einfach vor sich hin gestarrt, und wenn ich ihm eine Frage stellte, hat er mich angeschaut, als wäre ich gerade vom Himmel gefallen.«
»War er ein Träumer?«
Mertens kratzte sich die glänzende Stirn.
»Hm, so würde ich es nicht ausdrücken. Oder vielleicht doch. Er hatte so seine Momente. Gute wie schlechte.«
»Er war eine graue Maus.«
»Ja, eine graue Maus. Diese Beschreibung passt zu ihm, Inspecteur.«
Deleu stand auf und warf einen Blick auf seine Armbanduhr, denn er hatte noch einen Termin mit Verbists früherem Arbeitgeber, einem Versicherungsmakler in Mechelen. Schon vor einer Viertelstunde hätte er dort sein müssen.
Mertens sah ihn überrascht und auch ein wenig enttäuscht an.
»Müssen Sie schon gehen?«
»Ja, ich habe viel zu tun. Ich danke Ihnen sehr für die nützlichen Informationen.«
»Sie haben sich ja gar nichts aufgeschrieben«, bemerkte Mertens’ Frau vorwurfsvoll.
»Machen Sie sich keine Sorgen, Mevrouw, ich habe ein ausgezeichnetes Gedächtnis«, erwiderte Deleu und tippte sich an die Schläfe. Dann wandte er sich zum Gehen.
»Sie müssen Ihren Kräutertee noch austrinken, Inspecteur. Ehe Sie sich versehen, haben Sie sich eine Angina zugezogen oder eine Lungenentzündung.«
»Mir ist doch noch etwas eingefallen, das vielleicht wichtig sein könnte«, sagte Mertens.
Deleu drehte sich um. »Ja, was denn?«
»Nun, er war ein intelligentes Kerlchen, daran besteht kein Zweifel. Aber man musste ihm Zeit lassen. Ab und zu, wenn er in Zeitnot geriet, etwa in einer Prüfung, blockte er vollkommen ab. Dann brachte er kein klares Wort mehr heraus, und wenn man ihm eine Frage stellte, sprudelte manchmal nur ungereimtes Zeug aus ihm heraus. Wirr, schnell und ohne Zusammenhang.«
Jetzt zog Deleu doch sein Notizbuch aus dem Mantel, und Mertens’ Frau nickte anerkennend.
»Und …« Deleu zögerte. »Haben Sie einmal mit seiner Großmutter darüber gesprochen?«
Mertens reckte das Kinn nach vorn.
»Natürlich, was denken Sie denn! An jedem
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