Bosmans/Deleu 04 -Todeswahn
Elternabend habe ich versucht, es ihr begreiflich zu machen. Ich habe sie sogar mehrmals zu Hause aufgesucht.«
»Ja, das stimmt, für seine Jungs hat er alles getan«, pflichtete Magda ihm bei. Es klang sogar ein bisschen vorwurfsvoll.
Mertens warf ihr einen grimmigen Blick zu. Seine Gattin lachte achselzuckend.
»Wir haben keine eigenen Kinder«, erklärte sie fast entschuldigend. »Und Sie? Haben Sie Kinder, Inspecteur?«
»Ja, zwei«, antwortete Deleu, von ihrer Frage überrumpelt. »Neunzehn und anderthalb Jahre alt.«
Ohne eine Reaktion abzuwarten, blickte er Mertens an. Aus dem Augenwinkel heraus sah er, dass dessen Frau das Gleiche tat.
»Und wie hat die Großmutter des Jungen darauf reagiert, Mijnheer Mertens?«
Mertens schnalzte mit der Zunge.
»Ach, die war stur wie ein Esel. Sie wollte das Problem alleine lösen. Mit gesundem Menschenverstand, wie sie sich auszudrücken pflegte.« Mertens lächelte. »Wissen Sie, ich war ab und zu ziemlich nachsichtig mit dem Jungen. Ein guter Lehrer muss hin und wieder kleine Schnitzer übersehen. Diese Menschlichkeit, die fehlt heutzutage. Alles muss immer schnell, schnell gehen. Das moderne Leben, nicht wahr? Ich sage Ihnen, so ein Junge geht heutzutage rettungslos unter. Dabei war der kleine Herman wirklich intelligent. Er las ständig, am liebsten Gedichte.«
Mertens blickte seine Gattin an.
»Kannst du dich noch an dieses eine Gedicht von ihm erinnern?«
Seine Frau zuckte entschuldigend die Achseln.
»Ach, du weißt schon, dieses rührende kleine Gedicht über den Jungen und das Meer. Ich habe es dir doch vorgelesen? Du warst zu Tränen gerührt. Weißt du das wirklich nicht mehr?«
Magda schien sich plötzlich zu erinnern.
»Doch, ja, jetzt fällt es mir wieder ein. Es war so schön, aber sehr traurig!«
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Dienstag, 25 . November – 10 Uhr 56
D ie Dame mit dem altmodischen Dutt schmiegte ihre Wange in die Hand von Doktor Verstraete.
In dem spärlich möblierten Zimmer herrschte eine beklemmende Stille, bis Eugenie Verbist zu weinen anfing.
»Unser Herman«, murmelte sie. »Was hat er nun schon wieder angestellt?«
Nadia Mendonck fühlte sich bedrückt. Sie sah Doktor Verstraete besorgt an, zog die Schultern hoch und spreizte die Hände. Verstraete deutete ein Kopfschütteln an. Er hatte ihre Zeichen richtig interpretiert. Nadia Mendonck fragte sich in der Tat, wie Verbists Mutter die Nachricht erfahren hatte. Als sie den altmodischen Fernseher sah, verzog sie die Lippen.
»Ganz ruhig, Mevrouw Verbist. Es ist alles in Ordnung.«
Verstraete streichelte der alten Frau über den Rücken. Abgrundtief traurig hob sie den Blick.
»Hat er es getan?«, fragte sie laut und wandte sich an die Ermittlerin. »Wenn er es getan hat, muss er bestraft werden. Und wer sind Sie überhaupt? Herman ist verheiratet!«
»Ich bin Nadia, die neue Krankenschwester.«
Während die runzlige alte Frau Nadia mit zusammengekniffenen Lidern musterte, nickte Verstraete anerkennend.
Nadia Mendonck versuchte, sich ein entwaffnendes Lächeln abzuringen, aber die alte Frau ließ sich nicht überzeugen. Sie lachte in sich hinein und drehte das Gesicht zum Fenster.
»Eugenie? Eugenie, sind Sie böse auf uns?«
Ihr Blick war starr, als fixiere sie einen Punkt am Horizont. Verstraete zuckte die Achseln und schnippte mit den Fingern. Doch Herman Verbists Mutter reagierte nicht.
Nadia Mendonck trat ans Fenster, aber die alte, gebeugte Frau nahm das Hindernis gar nicht wahr. Sie schien durch sie hindurchzublicken.
»Sie können sich die Mühe sparen. Mevrouw Verbist befindet sich in einem katatonischen Zustand.«
Die Ermittlerin gab ihre Versuche auf.
»Was wollten Sie eigentlich von ihr?«
»Im Grunde gar nichts. Vielmehr wollte ich Ihnen einige Fragen stellen.«
»Gut, dann gehen wir aber besser in mein Sprechzimmer, Inspecteur.«
Dieses Wort löste im Kopf von Herman Verbists Mutter offenbar einen Impuls aus.
»Inspecteur! Jean, mein Mann, hat nicht getrunken! Das habe ich Ihnen doch schon gesagt!«
Dann wandte sie das Gesicht wieder zum Fenster und schwieg. Doktor Verstraete hob sie hoch und legte sie behutsam auf das Metallbett, wo sie mit angezogenen Knien reglos liegen blieb. Die Tics, die rhythmisch über ihre Wange zuckten, waren die einzigen Lebenszeichen.
»Woran genau leidet sie?«, fragte Nadia Mendonck, nachdem die Tür hinter ihnen zugeklappt war. In dem engen, schwach beleuchteten Flur roch es nach Desinfektionsmitteln und Einsamkeit.
Der
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