Bosmans/Deleu 04 -Todeswahn
Doktor zögerte. Er rieb sich über den Ringbart, räusperte sich und wirkte für einen Moment geistesabwesend.
»Sind Sie sicher, dass es sich bei dem gesuchten Mörder um Eugenies Sohn handelt?«, fragte er dann nachdenklich.
Die Ermittlerin reagierte überrascht. »Aber das wäre eigentlich meine Frage an Sie gewesen. Hat der Sohn seine Mutter denn nie besucht?«
Der Doktor zuckte mit den Schultern.
»Nicht, dass ich wüsste. Die Aufnahme der Patientin wurde von ihrer Mutter veranlasst, die, soweit mir bekannt ist, inzwischen verstorben ist. Von einem Sohn war nie die Rede.«
»An welcher Krankheit leidet diese Frau?«, wiederholte Nadia Mendonck ihre Frage.
Wieder zögerte der Psychiater mit seiner Antwort.
»Doktor Verstraete«, fuhr die Ermittlerin eindringlich fort und zeigte ihm nochmals ihren Ausweis, »wenn Sie wollen, kann ich Mijnheer Bosmans anrufen, den Untersuchungsrichter, der mit dem Fall …«
»Schizophrenie«, antwortete der Arzt schließlich.
Nadia Mendonck blickte ihn erwartungsvoll an.
»Sie denken vielleicht an
Psycho,
aber dabei ging es um eine gespaltene Persönlichkeit, eine seltene Erkrankung, die …«
»Doktor Verstraete«, unterbrach ihn die Ermittlerin, »vielen Dank, aber ich kann mit dem Begriff Schizophrenie durchaus etwas anfangen.«
Der Psychiater murmelte eine Entschuldigung.
Eine Frau mit Mumm in den Knochen. Und hübsch noch dazu. Nur ein bisschen mollig um die Hüften.
»Aber diese Krankheit ist nicht leicht zu diagnostizieren«, ergänzte der Arzt, der noch nicht zum Aufgeben bereit war.
»Ist Schizophrenie erblich?«
»Tja, was heißt erblich? Nicht unbedingt. Aber es besteht ein erhöhtes Risiko, wenn die Krankheit in der Familie auftritt, das schon.«
»Ist Schizophrenie heilbar?«
Wieder fuhr sich der Arzt mit den Fingern durch den Bart. Dann legte er den Kopf in den Nacken und sagte: »Ja. Nein. Vollständig heilen kann man sie nicht. Aber man kann den Zustand der Kranken verbessern. Mit der richtigen Diagnose und einer Einstellung auf die richtigen Medikamente, die täglich eingenommen werden müssen, können die Symptome, sagen wir, gelindert werden. Aber eine Heilung? Nein, unmöglich.«
»Sind schizophrene Patienten gefährlich?«
»Nicht gefährlicher als Sie und ich, Inspecteur. Sie können ab und zu gewalttätig werden, aber nicht häufiger als gesunde Menschen auch.«
»Können sie allein zurechtkommen?«, fragte die Ermittlerin mit Dringlichkeit im Blick.
»Hm. Ja. Warum nicht? Sie könnten in gefährliche Situationen geraten, aber mit ein wenig Hilfe … Ich würde sagen, ja. Inspecteur, Sie müssen wissen, dass Schizophrenie eine Krankheit ist, die in unendlich vielen Varianten auftreten kann. Daher ist es ungemein schwierig, die richtige Diagnose zu stellen. Einer von hundert Belgiern erkrankt im Laufe seines Lebens daran. Aber mit den richtigen Medikamenten …«
Der Arzt hob den Blick, und sein selbstgefälliges Lächeln löste sich in Wohlgefallen auf.
Die attraktive Blondine war verschwunden.
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Dienstag, 25 . November – 11 Uhr 04
H erman Verbist summte vor sich hin. »Jetzt, zwanzig Jahre später, habe ich keine Lust aufzustehen, jetzt, zwanzig Jahre später, sehe ich wieder aus dem Fenster, aber meine Mama kann ich nicht sehen, meine Mama ist schon lange tot, sie liegt schon lange drunten im ersten Schnee.«
Das Singen wurde lauter.
»Guck mal in die Luft, ja, der Himmel ist grau, und es fallen die ersten Flocken. Ich wollte, es würde so bleiben und niemals vergehen. Ich fühle mich so allein im ersten Schnee.«
Herman Verbist blickte mit glasigen Augen durch die Ritzen der Jalousien. Er drehte sich um und schlurfte zur Anrichte.
»Ich darf nicht so unvorsichtig sein. Ich muss überlegter vorgehen, besser planen. Als Vater muss man vorausschauend handeln.«
»Irgendwo im Keller steht noch der Schlitten, und Papa schiebt ihn durch den ersten Schnee.«
»Ach, Ira, dein Leben hat sich sowieso dem Ende zugeneigt.«
Herman Verbist steckte sein T-Shirt in die Jeans und nahm ein nasses Küchenhandtuch von der Anrichte. Vorsichtig wusch er Wichtchens Gesicht. Sie riss vor Schreck die Augen auf und fing aus vollem Halse zu schreien an.
Ihre Undankbarkeit schockierte ihn, doch er blieb ruhig, legte das Baby auf die Karodecke und schloss den Karton, wodurch das Schreien etwas gedämpfter klang.
Verbist ging ins Badezimmer, putzte sich die Zähne und spürte, wie er körperlich ruhiger wurde. Sein Gebiss war rein.
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