Bosmans/Deleu 04 -Todeswahn
seinen Geisteszustand einzugehen, machten Verbist schier verrückt.
Verrückt!
Dicke Schweißtropfen perlten auf seiner Stirn.
Was wird aus Wichtchen werden, wenn ich nicht wiederkomme? Wichtchen braucht mich. Dringend. Ohne mich kann sie nicht überleben.
Verbist sprang so heftig auf, dass er einen Stuhl umstieß.
»So, Devis, läufst du jetzt auch weg. Bist kein bisschen besser als Chris.«
»Ich heiße nicht Devis, sondern Verbist, Herman Verbist«, erwiderte er verzweifelt. »Und außerdem wollte ich Sie nur fragen, ob Sie …«
Herman Verbist hämmerte sich verbissen mit den Fingerknöcheln gegen die Stirn. Aber es fiel ihm nicht mehr ein. Ratlos blickte er sich um.
»Hast du Kinder, Devis?«, stotterte Haezevoets.
»Ja, eine Tochter.«
»Nennen Sie sie bloß nicht Chris«, schluchzte der alte Mann. »Dann lässt sie Sie eines Tages im Stich, und Sie sehen sie nie mehr wieder!«
Die Stille lag wie ein Alpdrücken im Raum.
»Wir haben uns nur noch ein einziges Mal wiedergesehen, als sie Juliette holen kamen.«
Juul Haezevoets kratzte sich in den abstehenden Nackenhaaren, wedelte mit seiner Mütze und wischte sich die Augen damit trocken. Seine Worte schienen aus einer anderen Welt zu kommen, aus einer anderen Dimension.
»Sie spricht nicht mehr mit mir seit dem Tag, als sie sie zurückgebracht haben. Und ich finde keine von den Tauben mehr, nicht eine einzige. Schon seit Jahren nicht. Chris, ha!«
Dem Kapitel Juliette konnte Verbist wenig hinzufügen, aber er versprach dem gebrochenen alten Mann hoch und heilig, ihm eine Taube zu besorgen.
»Was meinst du, Juul, eine hübsche weiße Taube, eine Friedenstaube?«
Verbist ging zur Tür.
»Chris, du Mistkerl!«, war das Letzte, was er von Juul und Juliette hörte, für den Augenblick jedenfalls.
Er eilte nach oben, wobei ihm unterwegs einfiel, dass er vergessen hatte, nach einer Rolle Küchenpapier zu fragen. Gleich als Erstes ging er zum Karton und öffnete ihn. Wichtchen lachte.
Herman Verbist lächelte herzlich, und seine sonst so ausdruckslosen Augen leuchteten. Er drückte einen Kuss auf Wichtchens fuchtelndes Händchen und schloss den Karton wieder.
Das Baby verstand die Welt nicht mehr und fing an zu schreien. Verbist hörte es nicht. In Gedanken versunken starrte er die Anrichte an. Das verschmierte Wickelkissen.
Er sah keinen anderen Ausweg, als noch einmal zum Supermarkt zu gehen, der nur einen Steinwurf von der kleinen Wohnung entfernt lag.
Das Auto, das Yvette ein solcher Dorn im Auge war, lasse ich lieber stehen.
Kaum war ihm dieser Gedanke gekommen, da liefen ihm die Tränen über die Wangen.
Trotz ihrer Angewohnheit, ihn fortwährend zu kritisieren – »Du parkst absichtlich weit weg von den Geschäften, wann willst du diesen Schweinestall endlich mal sauber machen, wann kaufen wir endlich ein richtiges Auto, einen Viertürer, bleib ruhig liegen, ist ja wohl zu viel verlangt, mich mal irgendwohin zu bringen, ich komme schon ohne dich zurecht, wann willst du dir mal ernsthaft Arbeit suchen …« –, trotz allem hatte er Yvette geliebt. Im Nachhinein betrachtet.
Eine Weile lang ging es uns gut, vor allem am Anfang vom Ende.
Herman Verbist und Yvette Serneels – was wie ein Märchen begonnen hatte, endete in einem Alptraum.
Anfangs empfand er Respekt vor ihr. Eine Menge Respekt. Schließlich war sie es gewesen, die ihn endlich von seiner Jungfräulichkeit erlöst hatte.
Ach, inzwischen weiß ich, dass ich sie nur aus Pflichtgefühl geheiratet habe. Schon bald hat sie mich gelangweilt. Und sie hat mich ihrerseits ignoriert. Sie hat sich geweigert, das Gute in mir zu sehen. Erst am Ende, als sie schwanger war, hat sie mich zu schätzen gelernt. Sie hat Selbstmord begangen, nachdem sie mein Computertagebuch entdeckt hatte, aber meine Gedichte hat sie nie gelesen. Soraya dagegen war begeistert von ihnen! Frauen. Die soll einer verstehen. Na, ich jedenfalls nicht.
Verbist blinzelte ein paar Mal und schluckte.
Ob ich unsere Caroline geliebt habe, weiß ich nicht mehr. Manchmal kann ich mich an nichts mehr erinnern. Gut, dass ich mir vorgenommen habe, mich nur noch auf mich zu konzentrieren. Da kann man wenigstens nicht betrogen werden.
»Der Mensch, ein kompliziertes Wesen«, murmelte er ein Zitat, das er irgendwo einmal gelesen hatte.
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Dienstag, 25 . November – 15 Uhr 25
N eben dem Supermarkt befand sich eine Kneipe. Herman Verbist ging langsamer, zog den Schirm seiner Baseballkappe tiefer ins Gesicht und
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