Bosmans/Deleu 04 -Todeswahn
Haezevoets.
»Wie geht es denn Ihren Tauben?«, fragte Verbist in dem Versuch, das Gespräch wieder in Gang zu bringen.
»Meine Juliette will nicht mehr umziehen, stimmt’s, Juliette?« Haezevoets’ Blick wurde grimmig. »Wollen Sie sie etwa abholen?«
»Ich wollte mir eigentlich nur eine Rolle Küchenpapier von Ihnen borgen.«
»Sie würde das nicht noch einmal ertragen, stimmt’s, Juliette? Sie wird allmählich vergesslich«, fuhr Haezevoets fort und flüsterte Verbist darauf ins Ohr: »Meine Juliette ist stocktaub, machen Sie sich nichts draus. Das ist das Alter. Tja, wenn man in die Jahre kommt!«
Herman Verbist antwortete mit einem gemessenen Nicken, perplex über so viel Lebensweisheit. Aber der Alte war noch nicht fertig.
»Es wird nicht besser, wissen Sie. Sie vergisst sogar, die Tauben zu füttern. Die armen Tiere liegen tot im Schlag.«
»Schon lange?«, fragte Verbist, der versuchte, sich auf die Wellenlänge seines Gegenübers einzupendeln.
Juul Haezevoets drehte seinen plumpen Oberkörper zu dem leeren Stuhl und brüllte: »Die Tauben! Es geht um die Tauben, Juliette!«
Dieser Mann ist verrückt, völlig plemplem. Ich muss hier weg.
»Nun, Mijnheer, ich muss jetzt leider …«
Haezevoets hielt ihn mit seiner großen, von der Gicht verkrümmten Hand zurück. Sein fauliger Atem trieb Verbist die Tränen in die Augen. Zum letzten Mal hatte er geweint, als seine Großmutter ihn allein zurückgelassen hatte. Für immer. Bei ihrer Beerdigung, und die war zehn Jahre her.
»Und im Bett ist auch nicht mehr viel los«, flüsterte Juul und zwinkerte ihm verschwörerisch zu. »Aber Sellerie will sie nicht essen. Ach, Junge, weinst du etwa deswegen? Wein doch nicht. Ich müsste weinen. Aber zum Glück geht immer noch Fünf gegen Einen.« Er knallte seine schwielige Faust auf den Tisch.
Verbist lachte peinlich berührt. Aber er saß nun einmal einem offenen, ehrlichen Menschen gegenüber, damit musste man umgehen können. Die Hilflosigkeit des Alten schlug ihm aufs Gemüt. Am liebsten hätte er ihn umarmt und »Großvater« genannt. Aber er tat es nicht. Er tat so etwas nie. Außerdem hatte er Angst. Eine Heidenangst.
Unsicher stand er auf.
Juul Haezevoets saß in sich zusammengesunken auf seinem Stuhl, die Hände im Schoß gefaltet. Das Kinn sank ihm auf die Brust. Nur seine kräftigen Daumen bewegten sich noch. Sie umkreisten einander.
»Ja, ich weiß, Liebchen«, sagte er verlegen.
Dann trat eine peinliche Stille ein.
Da er annahm, dass Juliette jetzt sprach, schwieg Verbist. Das Schweigen lastete immer schwerer auf ihm, es war fast greifbar. Juul Haezevoets rülpste vernehmlich.
»Prosit!«
»Prosit!«, erwiderte Verbist.
»Ja, Gesundheit, das ist das Wichtigste im Leben.«
Wie dieser alte, einfache Mann auf solche Weisheiten kommt! Das ist wahre dichterische Authentizität.
»Wie heißt du eigentlich?«
»Herman, Herman Verbist, Juul.«
»Ach, auch Juul.«
»Nein, Herman, Herman Verbist!«
»Devis.«
Haezevoets klopfte Verbist dermaßen kräftig auf den Rücken, dass der es bis in die Magengrube spürte. Er hustete, und seine Muskeln verkrampften sich.
»Rauchen ist nicht gut«, mahnte Haezevoets dumpf. »Zerstört alle Vitamine.«
»Dabei rauche ich doch nur Mentholzigaretten«, scherzte Verbist. Das war eines seiner verborgenen Talente, diese geistreichen Antworten im richtigen Moment. Meistens schwieg er in einer Gesprächsrunde, aber wenn sich eine Chance bot, konnte er ganz schön schlagfertig sein.
Doch Juul Haezevoets verzog keine Miene.
Er hat meinen Witz wahrscheinlich nicht verstanden. Aber trotzdem verdient er, dass ich ihn respektiere. Jedem sein Niveau.
»Chris ist ein missratenes Kind«, seufzte Haezevoets aus heiterem Himmel und starrte seine Hände an.
»Das stimmt doch, Juliette, dass Chris missraten ist?«, sagte er zu dem Stuhl. Er schüttete den Rest des Bieres in sich hinein und hielt die wässrigen Augen auf die Stuhllehne gerichtet. »Und du bist jetzt still. Du weißt genau, dass ich recht habe. Ich will nicht darüber diskutieren, Juliette, nicht jetzt, wo wir Besuch haben.«
Sein einziger verbliebener Schneidezahn schabte über die Unterlippe. Er nahm seine schlaffe Schirmmütze ab und kratzte sich am Kopf.
Herman Verbist starrte die widerspenstigen Haarbüschel an, die dem alten Mann aus den Ohren wuchsen. Dann wandte Haezevoets sein verlebtes Gesicht wieder ihm zu.
»Das stimmt doch gar nicht, Juliette!«
Die Versuche, auf den alten Mann und
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