Bosmans/Deleu 05 -Schnitzeljagd
stumm zu, woraufhin Deleu und Mendonck eintraten und nebeneinander durch den schmalen Flur gingen, in dem ein süßlicher, muffiger Geruch hing. Das spärliche Licht der Energiesparlampe zeichnete messerscharfe Schatten an die Wand, wo in einer Nische drei Sansevierien standen. Über der Tür zum Wohnzimmer hing ein Foto des ermordeten Mädchens. Auf der Ecke des Bilderrahmens klebte ein schwarzes Trauerband.
Muriel Vandergoten hatte große blaue Augen und lachte herausfordernd in die Kamera. Ihre Gesichtszüge machten Deleu wehmütig.
Er schluckte und ging ins Esszimmer, wo die Frau sie mit einer gemessenen Geste einlud, Platz zu nehmen. Die Stühle fühlten sich trotz des samtigen Polsterstoffs rauh an.
»Kaffee?«
Es erfolgte keine Antwort.
»Oder lieber Tee?« Annick de Kimpe hatte eine sanfte, melodiöse Stimme, und als Deleu sie eingehend betrachtete, wurde ihm bewusst, wie attraktiv sie war – trotz ihres Alters und des Schicksalsschlags, der sie getroffen hatte. Die Ähnlichkeit mit ihrer Tochter war frappierend: die hohen Wangenknochen und die tiefliegenden, eindringlichen Augen, in denen eine gewisse Melancholie lag.
»Kaffee, bitte. Vielen Dank, Mevrouw Vandergoten«, erwiderte Mendonck.
»Für mich bitte auch«, sagte Deleu, doch der Nachsatz »Sie wohnen hier wirklich schön« geriet ihm alles andere als aufrichtig.
Die Frau lächelte. »Nennen Sie mich ruhig Annick, das ist nicht so förmlich«, sagte sie und ging in die Küche.
Trotz der entspannten Atmosphäre spürte Deleu den Schmerz und den unerträglichen Kummer, der das ganze Haus zu erfüllen schien. Ohnmacht und Wut stritten um die Vorherrschaft, während er nervös in seiner Hosentasche herumsuchte. Er schaute sich um, zögerte, und als er nirgends einen Aschenbecher entdecken konnte, zerknüllte er das Päckchen Belga in seiner Tasche. Mendonck schnalzte mit der Zunge und lächelte. Deleu schaute sie verwirrt an. Die Art und Weise, in der Nadia seine Gedanken las, erzeugte ein seltsames Gefühl in seiner Brust – warm und vertraut, aber zugleich verzweifelt.
Muriel Vandergotens Mutter stellte routiniert das Kaffeeservice auf den Tisch und füllte mit kurzen, beherrschten Handbewegungen drei Goldrandtassen. Dann nippte sie an ihrer Tasse und schob sich mit dem Ellbogen ein Kissen in den Rücken. »Schießen Sie ruhig los, Kommissar Wellens. Ich bin bereit.«
Erstaunt warf Mendonck einen Blick über die Schulter, als erwarte sie noch eine dritte Person in der Türöffnung. Dann schaute sie fragend zu Deleu. Doch der hatte nur Augen für seine gefalteten Hände. Ein knappes Lächeln umspielte seine Lippen.
»Ist Ihr Mann …«
»Mein Mann ist nicht zu Hause«, sagte die Frau und schob sich eine blondierte Locke hinters Ohr.
Nach einem Moment beklemmender Stille schaute Mendonck zu Deleu hinüber, der träge den Kopf hob, und dann wieder zu der Frau, die unbehaglich auf ihrem Platz hin und her rutschte und erneut an ihrem Kaffee nippte.
»Mevrouw Vandergoten …«
»Annick, Annick de Kimpe«, unterbrach die Frau Deleu, und als dieser sie eindringlich musterte, ließ sie selbst die Katze aus dem Sack: »Richard, mein Mann, wohnt nicht mehr hier. Wir haben den Tod unserer Muriel nur schwer verkraften können.« Ihr Kinn bebte, und mit einer entschuldigenden Handbewegung wandte sie den Kopf ab.
Deleu spürte, wie ihm trotz der morgendlichen Kühle im Wohnzimmer der Schweiß ausbrach und den Nacken hinablief.
Nadia Mendonck kam ihm zu Hilfe. »Mevrouw … Annick, wir haben die Akte Ihrer Tochter noch einmal gründlich analysiert.« Mendonck legte die Hände auf den Tisch und wog ihre Worte sorgfältig ab: »Bedauerlicherweise haben wir nichts Neues entdeckt – keine neue Spur, die vielleicht doch noch zu einer Lösung des Falls führen könnte.«
»Und warum sind Sie dann hier?«, fragte Annick de Kimpe überraschend scharf. »Entschuldigen Sie bitte«, murmelte sie sofort und trank einen Schluck Kaffee. Die Tasse zitterte.
»Wir würden das Zimmer Ihrer Tochter gern noch einmal gründlich durchsuchen, inoffiziell … aber selbstverständlich nur mit Ihrer Zustimmung.«
Die Frau lachte leise. »Hunderte Male. Hunderte Male hab ich das bereits getan.«
Deleu räusperte sich verlegen, holte sein Taschentuch aus der Hosentasche und schneuzte sich. Das brachte wenigstens etwas Erleichterung.
Deleus Sorge erwies sich als begründet: Das Zimmer sah noch genauso aus, wie Muriel Vandergoten es an jenem Tag verlassen
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