Bosmans/Deleu 05 -Schnitzeljagd
Deleu sah, waren zwei gestreckte Finger, die sein Kollege zum Victory-Zeichen erhoben hatte … und Van Cleynenbreughels Rumpf, der plötzlich eine Drehung machte.
Das darauffolgende Dröhnen, als Pierre rücklings drei Treppen hinunterstürzte, hörte Deleu zwar nicht mehr, aber er hämmerte trotzdem mit beiden Fäusten auf die Knöpfe des Aufzugs, der langsam nach unten glitt.
»Pierre, du Vollidiot!« Deleu riss sein Sprechfunkgerät aus der Tasche und schrie: »Dritter Stock! Beamter am Boden!«
Letzteres hätte er besser nicht tun sollen, denn in dem Moment, in dem Van Cleynenbreughel mit dem Fleischmesser in der Hand im Treppenhaus auf der dritten Etage um die Ecke bog, zersplitterte das Glas der Flurfensterscheibe. Der Einschlag der Kugeln war verheerend. Der große Körper zuckte, und Blutspritzer färbten die Wand, als Van Cleynenbreughel rücklings gegen das Mauerwerk prallte und zusammensackte.
Pierre, der die Salve gehört hatte, presste sich stöhnend die rechte Hand in den Rücken und lief gekrümmt die Treppe hinunter. Als er Van Cleynenbreughel, der auf die Knie gesunken war, sah, hielt er abrupt inne. Sein Kinn ruhte auf seiner Brust. Ein Fuß zeigte in die verkehrte Richtung. Sein rechter Arm, der nach vorn ragte, als ob er nicht zum Rest des Körpers gehörte, zuckte noch einmal. Dann ging das Zucken in ein leises Beben über – und dann nichts mehr.
»O mein Gott. Verdammter Mist!«, schrie Pierre, als er die beiden Löcher im Rücken des Mannes sah.
Während Deleu im Erdgeschoss die bewusstlose Frau einem kräftigen Sanitäter in die Arme drückte, stürmte Nadia Mendonck auf ihn zu.
»Dirk, was ist passiert?« Sie klammerte sich an seine Schulter. Deleu drehte sich um und schaute sie aus leeren Augen an.
»Dirk?«
Plötzlich wirbelte Deleu herum und folgte den fünf schwarz gekleideten Sonderkommando-Beamten, die in Gefechtsformation die Treppe hinaufstürmten.
»Pierre ist oben allein mit dem Mörder«, keuchte Deleu. »Bleib unten, Nadia.«
Mendonck machte Anstalten, ihrem Kollegen zu folgen.
»Bleib, verdammt noch mal, unten!«
Zu verblüfft für eine Reaktion, schaute Mendonck Deleu mit gemischten Gefühlen nach, bis er um die Ecke verschwand. »Sei vorsichtig, Dirk«, murmelte sie.
*
Mendonck und Deleu gingen Seite an Seite über den Bürgersteig. Schweigend. Jeder in seine eigene Welt versunken.
»O mein Gott.«
»Was?« Deleu erwachte ruckartig aus seinen Gedanken. Mendonck schloss die Augen und schüttelte den Kopf.
Auf dem Bürgersteig lief ein etwa drei Jahre alter marokkanischer Junge.
Deleu blieb stehen und schaute sich um. Dann fasste er den kleinen Jungen unter den Achseln und drückte ihm einen Kuss auf die Stirn. Der Junge sah den Beamten mit großen Augen an. Erstaunt. Deleu setzte ihn auf die Fensterbank und hob mahnend den Finger, während der Kleine wieder ins Zimmer kletterte.
Beide Beamten gingen schweigend weiter.
»Die Presse wird sich auf die Sache stürzen.«
»Hm.«
»Ich möchte jetzt nicht in Bosmans’ Haut stecken.«
»Eine Tasse Kaffee, Kollegin?«
»Hm.«
»Ja oder nein?«
»Hm.«
»Also ja.«
»Ich bin noch immer nicht darüber hinweg. Glaubst du, dass dieser Mann sie ermordet hätte, wenn wir nicht …«
»Oder lieber ein Pils?«
»Ich darf keinen Alkohol trinken.« Das Wort »Vater«, das Mendonck schon auf der Zunge lag, blieb jedoch an ihren Lippen haften.
Doch es schien, als würde Deleu Nadias Gedanken intuitiv erfassen. Ein seltsames Gefühl breitete sich in seinem Bauch aus – eine Mischung aus Wärme und Schmerz.
Nadia Mendonck, die es ebenfalls spürte, schaute geradeaus.
»Ich geb’s zu, Nadia. Ich liebe Kinder.«
Nadia Mendonck nickte nur, doch dieses Mal lächelte sie. »Zeit für einen Kaffee, Dirk.«
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10
S taatsanwalt Diederik Bauwens, ein hagerer Sechzigjähriger mit energischem Blick und den Armen eines Dockarbeiters, wedelte aufgebracht mit der Sonderausgabe der Tageszeitung »Het Volk«, als Jos Bosmans sein Büro betrat.
Der Untersuchungsrichter, der trotz der frühen Morgenstunde frisch und munter wirkte, räusperte sich. »Diederik?«
Bauwens musterte Bosmans von Kopf bis Fuß, als würde er ihn zum ersten Mal sehen und nun einzuschätzen versuchen, wen er da vor sich hatte. Er seufzte.
»Diederik?«
»Beweise, Bosmans. Wir haben keine eindeutigen Beweise.«
»Nein, nicht einmal zweideutige«, erwiderte Bosmans lakonisch, zog linkisch an einem Hemdzipfel in seinem Hosenbund und stopfte
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