Bosmans/Deleu 05 -Schnitzeljagd
sich befand.
Dann versuchte sie, die Arme um die Schultern zu legen, um die beißende Kälte zu mildern, aber auch das gelang ihr nicht. Das straff gespannte Seil schnitt ihr tief in die Haut.
Ich liege irgendwo vergraben. Unter Wasser.
Ein roter Schleier vernebelte ihr die Sicht: Ihre größte Angst – lebendig begraben zu werden oder zu ertrinken.
Plötzlich ertönte ein Brummen und dann ein Dröhnen. In ihrer Todesangst blähte Mendonck die Nasenflügel, und erst, als der Wagen sich in Bewegung setzte, begriff sie, wo sie sich befand.
*
Um halb drei Uhr nachts ließ John Mispelters Widerstand nach. Nicht abrupt, eher wie ein Ballon, aus dem langsam die Luft entweicht. Sein Blick schweifte durch den kleinen Vernehmungsraum. Richtungslos, auf der Suche nach Halt, auf der Suche nach etwas Erkennbarem. Nach einem Anhaltspunkt, nach einem rettenden Anker … was auch immer.
»Ja«, sagte Walter Vereecken, »ich höre!«
Die lauten Worte durchschnitten die klaustrophobische, rauchgeschwängerte Enge. Vereeckens bis dahin väterlicher Ton, der plötzlich in einen harten Befehlston umschlug, ließ Mispelters’ letzten Widerstand bröckeln.
»Ihr könnt mir gar nix beweisen«, sagte er.
»Deine Fingerabdrücke, John. Die sind auf der Plastiktüte. Diesem dreckigen, grauen Müllsack, in den du Muriel Vandergotens Kopf gestopft hast.«
Mispelters fasste sich an den Kopf. Ihm war schwindlig. Die Stille im Raum war bedrohlich und unerbittlich, als käme der Tod langsam, aber sicher immer näher.
Plötzlich brachen die quietschenden Reifen von Vereeckens Rollstuhl den Bann. Kurt Verrijt warf seinem Kollegen einen verärgerten Blick zu, doch dieser bekam davon nichts mit. Langsam rollte er bis dicht an Mispelters heran, und seine Lippen flirteten mit dessen Ohrmuschel.
»Das ist Mord, John Mispelters. Vorsätzlicher Mord. Und das bedeutet …« Vereecken legte eine Kunstpause ein. »Das bedeutet, dass du für den Rest deines Lebens hinter Gitter gehst. Den Rest deines Lebens, John. Bei Kindermördern kennt der Staat keine Gnade. Wie alt bist du jetzt, John?«
Erneut pausierte Vereecken und strich sich müde mit einem Taschentuch über die Stirn. Als er Mispelters ansah, schlug der die Augen nieder.
»Selbst deine Mitgefangenen werden dich hassen. Glaub mir: Sie werden dich jagen, und dann werden sie dich fertigmachen, John. Und kein Hahn, der danach kräht. Niemand, der daran was ändern kann. Oder will. Ein kleiner Artikel in irgendeiner Zeitung. Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht. Die Wahrheit, John. John? Deine letzte Chance, John.«
Mispelters starrte noch immer auf den Boden. Seine Unterlippe zitterte, und der Mann, der wenige Stunden zuvor noch selbstbewusst grinsend die Nase gerümpft und die Ermittler, ohne mit der Wimper zu zucken, freimütig angesehen und ihnen ruhig mitgeteilt hatte, sie würden einen unverzeihlichen Fehler begehen und könnten sich schon mal nach einem anderen Job umschauen, denn seine Anwälte würden Kleinholz aus ihnen machen, dieser Mann zerbrach endgültig. Wie ein Glas, das nach einem freien Fall klirrend zersplitterte.
»Ich war das nicht. Ich hab nichts getan. Nichts. Ich hatte keine Wahl. Das war dieser andere.«
»Welcher andere, John?
The Others?
Von Alejandro Amenabar? Es gibt keinen anderen, John. Wir haben deine Frau verhört. Sie hat alles gestanden, John«, log Vereecken. »Sie hat alles gesehen. Aber sie hatte zu viel Angst, um etwas zu unternehmen.«
Fahrig wischte Mispelters sich den Schweiß von der Stirn – ein sinnloses Unterfangen. Plötzlich verzog er die Oberlippe, und seine spitzen Zähne kamen zum Vorschein: »Sie lügt! Die Schlampe lügt.«
Vereecken rollte ruhig in seinem Rollstuhl zurück und schwieg.
»Ich schwöre es. Nur bewusstlos. Das Schwein hat sie abgestochen. Mit einem Fleischermesser. Als ob er ein Tier schlachtete … ein Kaninchen.« Mispelters begann, zu keuchen und zu stottern, und riss am Kragen seines verschwitzten T-Shirts. »Er … er hat ihr den Kopf abgeschnitten. Hinterher … und ich … ich …«
»John! Hierbleiben, John. Ganz ruhig.«
Mispelters schaute auf, mit flehenden Augen, aus denen grenzenlose Angst sprach.
Vereecken nickte ihm mitfühlend zu. »Wer war dieser andere? Dieses Schwein.«
»Ich hab ihren Kopf in der Plastiktüte gefunden. Morgens vor der Haustür. Um sechs Uhr morgens. Es war noch dunkel. Ich bin fast darüber gestolpert. Ich hab in den Müllsack geguckt und …« Mispelters schlug
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