Bostjans Flug - Roman
gehen ihm im Kopf herum, nichts Übersinnliches verfängt bei ihm. Und wenn er sich bei seinen Nachbarn umschaut, liest er an ihren Gesichtern ab, daß auch sie nur das Übel aus dem Alltag zu vertreiben suchen, auch sie in ihren eigenen irdischen Angelegenheiten stecken, auch sie hier nur
nachempfinden, verdauen und ausscheiden, was sie unlängst zu sich genommen, erlebt haben, und nebenbei hecken sie neue Gemeinheiten und Grausamkeiten aus, Ränkespiele für die nächsten Tage.
Diesmal war er allein in der Kirche, sich selbst überlassen, dem herrschaftlichen Raum ausgesetzt, der gesättigt war von Heiligkeit und durchweht von Jenseitigkeit, an dem Ort, wo Schmerzen gesegnet wurden, Leiden und Wunden jeder Art, wo seelische und körperliche Gebrechen bis zu einem solchen Grad gepriesen wurden, daß man sie sich gegenseitig mißgönnte. Er war allein, keine Menge war da, die ihn nach und nach aufgesogen hätte. Ein Gefühl von Verwegenheit ergriff ihn, ein Gefühl der Unverschämtheit, der unangebrachten Anmaßung, der Anmaßung des Unangebrachten, trotzdem näherte er sich dem Presbyterium. Vor den Stufen blieb er stehen und schaute sich um, vertiefte sich aus der Nähe in die Gesellschaft der Heiligenfiguren, wie sie bemalt und herausgehauen aus verschiedenen Materialien oder nur durch Zeichen angedeutet auf ihren Sockeln standen oder vor sich hin starrten und ihre Kränkungen, Verletzungen und Verstümmelungen zur Schau trugen. Der Altar war beladen und bis zum Brechen voll, die goldgeflügelten Nackerpatzerl nahmen den rundherum behängten Wänden etwas von der Schwere.
Da blieb sein Blick an Marjeta hängen, der irischen Königin und Schutzheiligen der Kirche, die in der Mitte des Hauptaltars gerade in diesem Moment von der Sonne angestrahlt und belebt wurde. Ein weiter Mantel umhüllte sie, der Faltenwurf ließ sie stattlich und ausladend erscheinen, nahm ihr aber nichts von ihrer Schönheit. Kein Wunder auch: ihr Altar voller Pracht und Glanz, und auf den Seitenaltären nur zwei armse
lige Kerzen! Die weiblichen Heiligenfiguren sind durchwegs in Mäntel und lange, dicke Kleider gehüllt, aus denen nur die vergoldeten Nägel und das Gesicht hervorschauen. Sie sind ohne Rumpf und Gliedmaßen, nonnenhafte, geschlechtslose Wesen vom Haar bis zu den Knöcheln, wie Kinder eingefatschte, vermummte Mißgestalten. Nackt sind nur die Männerfiguren, nackt ist der Körper am Kreuz, nackt sind die männlichen Heiligen, auch sie grob behauen, ungeschlacht, in derben, harten Linien, jedoch nackt. Sebastian, sein Fürbitter auf dem Seitenaltar, ist nur um die Lenden bedeckt, seine Nacktheit ist gespickt mit Pfeilen, entblößt steht auch Florian da mit seinem löschenden Wasserstrahl. Peregrin am Wanderstab, der Fürbitter der Langsamkeit, schickt sich bereits an, den Umhang zu lösen, und Boštjan erschrickt bei dem Gedanken, ihn nach einem Lidschlag ohne alles vor sich stehen zu sehen. Michael hat die Kutte abgeworfen, bevor er die Lanze in den Schlund des Drachen trieb. Marjetas Körper aber ist verhüllt von oben bis unten und von unten bis oben, um im Betrachter keine sündigen Gedanken zu wecken. Sünden genießen auf diesen Hügeln ein besonderes Ansehen und eine außerordentliche Wertschätzung, es genügt schon eine einzige, um den Menschen in die tiefste Hölle zu bringen, wo er Tag und Nacht und auch noch dazwischen von den Teufeln zerrissen wird. Kaum ist der Körper bis zur letzten Faser zerfetzt, die Seele bis zum letzten Hauch zerschlissen, schon wachsen beide wieder nach, um sogleich bereit zu sein für ein neuerliches Zerreißen. Unterwegs, während er in die Hölle fährt, streift er mit seinem Blick das Fegefeuer, um zu sehen, welch angenehme Dinge ihm entgehen. Eine einzige Sünde genügt. So eine Ordnung verführt geradezu die Massenmörder zum Massenmorden, spornt sie eigens dazu
an, weil es gleichgültig ist, ob es sich um mehrere Sünden handelt, wenn bereits eine einzige gleich viel bewirkt. Verführung zur Sünde wäre das letzte, was den weiblichen Heiligen zukäme. Jedes Kind wußte, daß der Pfarrer an der Sündenordnung seine Freude hat; mit der Sündenverwaltung führt er die Gemeinde an der Leine, mit der Sündenerhaltung sorgt er dafür, daß der Normalwert konstant bleibt: besser, die Leute sündigen nach altem Brauch daheim, als daß sie hinausgehen und von draußen neue Sünden einschleppen, mit denen nichts anzufangen ist; besser, sie stolpern über die guten einheimischen
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