Bostjans Flug - Roman
nacheilt, kommt es ihm vor, als sähe er sie zum ersten Mal. Ist etwa nur die Stunde schon so spät, daß sie ihm so fremd vorübergeht? Doch auch sie hat sich verändert, unempfänglich für die Größe des Augenblicks: trägt das Wasser vorbei, in Reichweite von ihm, und spürt die Luft voller Stacheln nicht, versteht das aufgeregte Zwitschern der Vögel nicht, fühlt nicht die Botschaft des Gebüschs, merkt die Spannung nicht im Schritt, den bebend an
gespannten Steg und dessen ungeduldige, widerspenstige Wölbung, empfängt nicht seine Bitterkeit und wendet nicht die Angst, hört nicht das Pochen in seiner Brust. Jetzt ist ihm ein wenig leichter, zumindest hat er sie gesehen und weiß nun, daß sie bei den Felsen Wasser holt. Genüßlich zieht er die Luft ein, die sie mit ihrem wehenden Kleid in Bewegung gebracht hat, sucht die Lichtstrahlen, die noch in den Baumkronen hängen und sich nach den Vögeln strecken. Erschreckt flattern sie aus den Büschen auf und müssen jetzt von neuem die Sicherheit des Schlafplatzes prüfen, unter einem Himmel, der sich bereits zuzieht. Boštjan setzt sich von der Zeit ab, die keine Wunden heilt, sondern verschlimmert, sie nicht lindert, sondern vervielfacht und vertieft. Bisher war Boštjans Zeit eine hoffnungslose Wundheilerin, eine schlechte Heilerin ist sie heute, und Lina ist ein einziger offener Schmerz. Noch vor zwei Tagen mußte er sich zurückhalten, um nicht mit ihr über die Wälder zu fliegen und über die Felsen zu segeln, an diesem Abend richtet sie ihn zugrunde und zieht ihn hinab. Damals so viel Glück auf einmal und so wenig heute! Die schlafkranke Nachtwandlerin Črtelovka schwingt sich auf die Dächer und schlüpft durch die Kirchturmfenster, und auf ihn scheint nicht einmal der Mond, seine Kraft läßt ihn im Stich. Boštjan nimmt sich den Anteil vom Abend, schwingt sich aus dem Versteck auf den Steig, sollen sie ihn doch vom Haus her sehen, wenn sie wollen, hält seine Hände unter das Rinnsal und trinkt, nimmt sich selber den Lohn für jenen glücklichen Tag und erwidert Linas kleine Wallfahrt nach St. Lenart, als sie und ihre Mutter bei seinem Wassertrog haltmachten, nur daß Lina nicht aus dem Haus gerannt kommt, wie er damals mit der Schale. Boštjan ist rechtzeitig wieder daheim.
V on außen drückte die Sonnenglut und sickerte durch die Ritzen der bunten Fenster, nachdem das eisenbeschlagene Kirchentor in der Verriegelung eingerastet war. Das Wetter blieb unverändert, und wahrscheinlich wird, wenn überhaupt, erst der spät am Nachmittag aufkommende Wind die Hitze durchbürsten und die Schwüle vertreiben. Der Sommer wurde wild, erhob sich machtvoll und polterte einmal richtig los, mit allem, was ihm zu Gebote stand. So ein Tag, an dem auf den Dingen noch immer die Schwermut lag und bei jedem Schritt von neuem wachgerüttelt wurde; ein Tag, an dem Boštjan die Trübsal wie eine Trense im Mund wälzte und am Morgen noch nicht wußte, womit er ihn ausfüllen, womit er sie verdrängen würde. Ugav und seine Männer haben die Mutter geholt und halten sie nun über die Maßen lange zurück, und zum Schluß ist auch noch die Großmutter aus dem Haus fortgespült worden. Die Erkrankung hat sie zwar vor den Gendarmen bewahrt, dafür aber geradewegs in Matildas Sense getrieben; nur einmal fuhr die Klinge zischend über sie hinweg, und schon flatterte die Großmutter, die ohnehin nur noch ein Hauch war, wie ein Schmetterling über den Hofplatz. Irgendwo mußte er hin mit dieser Bitterkeit, mit dieser Einsamkeit, die sich nach dem Verschwinden der Mutter über der anderen, ungestillten, angehäuft hatte. Der Steinboden in der Kirche sog die Glutfäden auf und nahm den bunten Fenstern ihren Schimmer. Von draußen erreichten ihn nur zeitweise, durch die Mauern gedämpft und
wie von fern, die Geräusche der Haushälterin des Pfarrers, die irgendwo mit dem Kräuel ins steinige Erdreich schlug. Vor Michaeli haben es die Leute mit dem Ernten eilig, zu Michaeli bringen sie die Ernte ein und überschlagen den Ertrag, ihre Sorge richtet sich nun auf die kommende harte Zeit; das Grummet bewachen sie vor dem Regen, und dem Klee, dieser wohlschmeckenden Aufbesserung, diesem Futter für besondere Stallfeiertage, dieser Prämie für die Mehrleistung, suchen sie das Wetter aus, dem Stoppelklee helfen sie aus der Gerste, damit er sich nicht legt, damit ihn der Regen nicht versäuert und der Schimmel nicht verdirbt. Boštjan haben solche Arbeiten diesmal nicht beschäftigt,
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