Bote ins Jenseits
Aber dich wird es immer geben, deine Seele ist unsterblich.«
Mit offenem Mund starrte sie ihren Körper an, der ihr leblos gegenüberstand und sie aus beunruhigend toten Augen anzusehen schien.
»Oh… mein… Gott.«
Abrupt riss sie ihren Blick von ihrem Körper los und sah den Boten an.
»Das ist doch kein mieser Trick? Irgendein gemeiner Versuch, mich zu manipulieren?«
Gregor schüttelte den Kopf. »Wie hätte ich das bewerkstelligen sollen? Und warum? Wenn du noch immer nicht überzeugt bist, versuch doch einfach mal, deinen Kopf durch die Tür zu stecken, ohne sie vorher zu öffnen.«
»Nein! Das möchte ich nicht. Ich fürchte, ich glaube Ihnen auch so.«
»Versuch es doch einfach. Es kann nichts passieren«, forderte Gregor sie auf.
»Ich will nicht, okay! Das ist alles… etwas zu viel auf einmal. Was hat es mit dieser Schnur auf sich?«
»Sie ist die Verbindung zwischen Seele und Körper. Wenn sie durchtrennt wird, stirbt die Hülle.«
Heike Kamp riss die Augen weit auf. »Was? Wenn ich sie jetzt fallen lassen würde, wäre ich tot? Und das sagen Sie mir jetzt erst! Ich wollte es grad schon versuchen!«
»Versuch es ruhig. Es wird dir nicht gelingen. Diese Schnur wird man nicht so einfach los.«
»Nein! Nein, das will ich auch nicht. Ich will jetzt einfach wieder zurück in meinen Körper. Bitte!«
Gregor maß sie mit einem langen, prüfenden Blick.
»Du glaubst mir?«
»Fragen Sie mich bloß nicht! Mehr als meinen Namen kriege ich im Moment nicht zusammen. Alles, was ich will, ist zurück in meinen Körper. Danach können wir uns darüber unterhalten, an was ich glaube.«
Der Bote nickte. Seine Hand ruhte immer noch auf ihrer Schulter, und er gab ihr einen leichten Schubs, auf den sie nicht vorbereitet war. Sie hatte das Gefühl zu stürzen und verlor für einen Moment die Orientierung. Im nächsten Moment fand sie sich in ihrem Körper wieder und kämpfte mit ihrem Gleichgewicht, als wäre sie direkt nach dem Moment des Erwachens aus dem Bett gesprungen. Gregor war schon wieder neben ihr und stützte sie.
»Danke, geht schon wieder… Sie hätten mich vorwarnen können!«, keifte sie.
»Entschuldigung. Was hältst du jetzt davon, wenn wir uns setzen?«
Sie nickte verwirrt und ließ sich widerstandslos von ihm zur Sitzgruppe führen.
»Das war… beeindruckend!«, stammelte sie.
»Alles in Ordnung bei dir?«
»Ja, schon okay. Bin nur noch etwas zittrig. Ich könnte jetzt eine Zigarette vertragen.«
»Da zieh ich mit!«
Beide entzündeten sich eine Zigarette und sogen schweigend die ersten Züge in sich hinein. Gregor war mit sich zufrieden. Er hatte gerade ein paar Regeln gebrochen, aber wenigstens hatten sie ihn an sein Ziel gebracht. Die junge Frau saß unbefangen neben ihm und schien ihre Vorbehalte überwunden zu haben. Die Chancen, dass sie ihm jetzt endlich glaubte, waren exponentiell gestiegen!
Gregor sah zu Kamp, der das bunte Treiben regungs- und sprachlos beobachtet hatte. Er wirkte sogar noch mitgenommener als seine Schwester.
»Sie haben meinen Bruder nach seinem Tod gesehen?«, sagte sie mehr zu sich selbst als zu dem Boten. »Geht es ihm gut? Ich meine… blöde Frage, schon klar, aber… also abgesehen davon, dass er tot ist.«
Gregor sah erneut zu Kamp, der immer noch keine Anstalten machte, irgendetwas zu tun oder zu sagen.
»Ich glaube, er ist sehr zufrieden.«
Heike Kamp versuchte, sich selbst zu beschreiben, wie sie sich gerade fühlte, was sich als unmöglich herausstellte. Ein kleiner Rest Skepsis hielt sich hartnäckig an ihren Gedanken fest. Wenn all das, was sie in den letzten Minuten gehört und gesehen hatte, wirklich die Realität war, würde das ihr ganzes Leben verändern. Zu wissen, dass es eine höhere Macht gab, an die man glauben konnte – dass es ein Leben nach dem Tode gab – stellte einfach alles auf den Kopf.
All die Jahre hatte sie fast mitleidig auf jene Menschen geschaut, die ihr Leben an ihrem Glauben ausrichteten. Sie glaubten, dass es jemanden gab, der ihnen zuhörte und ihre Geschicke lenkte. Heike Kamp hielt das für einen grotesken Akt der Selbsttäuschung.
Und nun trat dieser Mann in ihr Leben, erzählte ihr all diese unheimlichen Dinge vom Jenseits, dem Leben nach dem Tod, Engeln, die keine waren, und trennte zu allem Überfluss, nur um ihre atheistische Starrköpfigkeit zu überwinden, ihre Seele von ihrem Körper. Wer war jetzt der bemitleidenswerte Mensch, der sich über viele Jahre selbst getäuscht hatte?
Sie
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