Boten des Lichts, Die Auserwählten (German Edition)
sie so lange in ihrer Gewalt haben, bis sie dich erwischen, aber wenn alles gut geht …«
»Was kann denn jetzt noch gut gehen? Mein Leben ist der reinste Horror!«, kreischte Tanya und wickelte sich fester in ihre Jacke. Der Kimono, den sie darunter trug, war völlig durchnässt. »Meine Eltern sind von Dämonen besessen! Ein fliegendes Mädchen entführt mich und erklärt mir, dass mein Leben in Gefahr ist! Verdammt, wo ist nur die Wirklichkeit geblieben?«
»Ich weiß, es ist schwer zu begreifen. Ich würde dir gerne in Ruhe erklären, was gerade passiert, wer ich bin und warum du auserwählt wurdest, aber so viel Zeit haben wir jetzt nicht.« Sie blickte zum Hochhaus, das sich durch den Regen nur verschwommen abzeichnete. »Sie können nicht fliegen, aber sie werden unseren Spuren folgen und von Schatten zu Schatten springen wie über Steine in einem Flussbett. Es wird nicht lange dauern, bis sie hier sind.«
»Wer … wer sind sie ?«, keuchte Tanya wütend. »Und wer … bist du?«
»Ich bin ein Engel. Das siehst du ja, oder?« Sie klopfte sich vorsichtig auf die Alula-Feder und ließ sie erzittern. »Du hast bestimmt schon mal von uns gehört.«
Die Gewissheit traf Tanya wie ein Schlag vor den Kopf.
Engel. Dämonen. Die christliche Mythologie in Fleisch und Blut, in Flügeln und Federn, Feuer und Eis. Eine Verquickung von Realität und Fantasie.
»Großer Gott …«, flüsterte sie und betrachtete die großen weiß gefiederten und granatrot eingesäumten Extremitäten. Der stärker werdende Regen prasselte auf das Blechdach.
»Du sagst es: Gott. Er ist am Ende dieses Weges. Eigentlich ist er am Ende jedes Weges«, erklärte Séfora, aber ihre Stimme klang ein wenig spöttisch. Es war nicht zu übersehen, dass sie Schmerzen hatte, am Rücken, irgendwo zwischen den Schulterblättern. »Wir, seine Boten, besuchen seit vielen Tausend Jahren die Erde und kümmern uns darum, die Pläne des Anderen zu vereiteln. ›Das Unrecht zu bekämpfen‹, wie es der Cid ausgedrückt hätte.«
»Der … Andere? Oh«, stieß Tanya hervor, als sie begriff, wen der Engel meinte.
»Ja, es gibt immer und überall jemanden, der gegen die Werte und Regeln der Allgemeinheit verstößt. Auch er schickt seine Boten auf die Erde, um seine Macht über die Menschen zu behaupten. Es ist ein Krieg ohne Stützpunkt, der seit Jahrtausenden anhält. Ihr würdet es einen Zermürbungskrieg nennen, ohne Anfang und Ende. Das hier ist nur ein weiteres Kapitel desselben, mit dem kleinen Unterschied, dass du das Pech hast, daran beteiligt zu sein.«
Tanya hatte aufgehört, auf den Regen zu achten, auf die Kälte, auf alles andere. Ein Engel sprach mit ihr, sagte ihr direkt ins Gesicht, dass a) Gott existierte, b) damit einhergehend auch das ganze Personal der christlichen Mythologie, sowie die heiligen Orte und apokalyptischen Prophezeiungen in der Literatur, und c) der berühmte Krieg zwischen Himmel und Hölle keine Erfindung erleuchteter Dichter wie etwa Dante war. Dieser Krieg fand jetzt statt, während sie hier miteinander sprachen. Und forderte unzählige Opfer in einer Schlacht ohne absehbares Ende.
Und Tanya war für eine der Parteien ein vorrangiges Ziel, warum auch immer.
In einer fernen Zeit und an einem verlorenen Ort blieb das Leben eines unschuldigen Teenagers zurück, der Begabtenwettbewerbe gewinnen konnte und der neue Stolz seines Gymnasiums war. Der ein Zuhause und eine Familie hatte, und Pläne für den Freitagabend mit dem Freund.
Sie wollte sich noch einmal übergeben, aber ihr Magen war bereits leer.
»Ich heiße Séfora. Und ich verspreche dir, dass du mir vertrauen kannst«, verkündete das dunkle Mädchen. »Mein Meister hat mich geschickt, um dich zu retten, dich und noch zwei weitere Auserwählte.«
»Auserwählte?«, wiederholte Tanya. Wie wenig ihr dieses Wort gefiel. Bei dem Beigeschmack, der ihm anhaftete.
»Das ist … eine lange Geschichte.« Sie zeigte ihr den Spiegel. Beim Anblick der Greisin, die sich auf seiner Oberfläche spiegelte, zuckte sie erschrocken zurück. »Das ist Ninive, meine Freundin und mein führender Geist.«
Obwohl du manchmal vergisst, meine Ratschläge zu befolgen, tadelte sie eine Stimme. Tanya wich zurück, bis sie gegen den Rand der Terrasse stieß. Auch sie hatte die Stimme gehört.
»Deine Ratschläge sind auch nicht immer eine Patentlösung«, rechtfertigte sich Séfora halb im Spaß. Dann fiel ihr auf, dass ihrer Gefährtin die Beine schlotterten. »Bei den
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