Boten des Lichts, Die Auserwählten (German Edition)
dringend eine Antwort brauchte. Sie ahnte, dass diese Antwort für sie wahrscheinlich am schwersten zu begreifen war, zumal sie noch so sehr mit ihrem alten, normalen Leben verbunden war, dass sie sich auf diese ganzen großen Zusammenhänge nur schwer einlassen konnte.
»Ninive, bitte, beantworte mir noch eine Frage. Und ich flehe dich an, vertröste mich nicht mit einer dieser vagen Andeutungen, die Séfora so zu gefallen scheinen.«
Du willst wissen, warum du. Warum ausgerechnet du zu den Auserwählten gehörst.
Tanya schluckte. Ihre Kehle fühlte sich trocken an.
»Ja.«
Die Greisin bewegte sich innerhalb des engen Rahmens, den der Spiegel ihr bot, hin und her. Es war, als suchte sie nach einer bequemen Position, in der sie die besten Worte finden würde. Séfora wollte es dir eigentlich gerne selbst sagen, sobald die akute Gefahr gebannt ist. Aber ich fürchte, das wird nie der Fall sein, solange wir uns auf dieser Ebene befinden. Höre mir also aufmerksam zu, denn was ich dir jetzt sage, wird nicht nur tiefgreifend deine Persönlichkeit verändern, sondern auch aufs Äußerste und Endgültigste deine Wahrnehmung der Wirklichkeit. Bist du bereit?
Der Kopf des Mädchens bewegte sich langsam von oben nach unten, wenngleich das nicht ganz der Wahrheit entsprach.
Die Umgebung des Einkaufszentrums schien ruhig zu sein. Die Morgendämmerung hatte bereits eingesetzt, und die schwachen Strahlen der aufgehenden Sonne hefteten sich auf die höchsten Gebäude der Stadt und tauchten sie in ein goldenes Licht. Die Wolkenberge, die sich zuvor über Tanyas Hochhaus aufgetürmt hatten, lösten sich wieder auf, ergeben in ihr Schicksal, das der Wind für sie bereithielt.
Das hieß, die Lamassu hielten sich nicht mehr dort auf.
Séfora setzte sich auf einen Gebäudevorsprung, der eigentlich nicht dazu gedacht war, dass jemand dort hinaufkletterte, und beobachtete nach Art der Wasserspeier das langsame Erwachen der Straßen, den Schein der Ampeln, die in regelmäßigem Takt ihre Farbe wechselten, und lauschte dem heiseren Kreischen unzähliger Garagentore, die alle gleichzeitig geöffnet wurden. Mit einem langen gleichmütigen Gähnen setzte sich die Stadt in Bewegung, um die Aufgaben eines neuen Tages zu meistern. Bald würden die Sicherheitsbeamten ihren Frühdienst antreten. Sie würden die Kaufhaustüren aufschließen und die Kollegen vom Nachtdienst friedlich schlafend vorfinden, und zwar an den unterschiedlichsten Orten, die Séfora extra für sie ausgesucht hatte. Dann würde die Panik ausbrechen. War im Einkaufszentrum letzte Nacht eingebrochen worden?
Nun, in gewisser Weise traf das zu, wenn auch nicht so, wie sie es sich vorstellten.
Séfora war erstaunt, welch eine große Rolle der »Zufall« im irdischen Leben spielte, diese unwiderstehliche Kraft der Natur. Im Himmel war alles sehr voraussehbar. Was geschehen musste, geschah, und wenn etwas deutlich vom Normalen abwich, wurde es schnell korrigiert oder in die richtige Richtung gelenkt. Der Himmel war Ausdruck einer maximalen Ordnung, im Vergleich zu dem fundamentalen Chaos, das der FEIND und seine Truppen verkörperten. Sie selbst war für das geregelte Leben ausgesprochen dankbar. Denn was sie von ihrem Erdenleben in Erinnerung hatte, war so chaotisch, so unvorhersehbar, dass es für sie der Inbegriff von Glück war, niemals mehr in dieses Leben zurückkehren zu müssen.
Doch sobald sie einmal einen Fuß auf die Erde gesetzt hatte, war alles anders. Einen physischen Körper anzunehmen, bedeutete, noch einmal in die Fänge des Unvorhersehbaren zu geraten, sich noch einmal den Launen des Universums auszusetzen. Sie erinnerte sich an die drei Axiome des Glücks, die ihr MEISTER sie gelehrt hatte: a) Das Glück impliziert das Chaos und ist durch kein System vorhersehbar. b) Das Glück beinhaltet einen gewissen Grad an Logik, und es gibt Systeme, die es vorhersehen können. c) Die Sätze a und b sind richtig.
Eine einzige Verwirrung.
Aus diesem und vielen anderen Gründen war das Phänomen, dass auf der irdischen Welt meistens alles gut ausging, ein wahres Wunder.
Eine heitere Melodie drang von der Straße zu ihr herauf. Sie kam von einem Stand, an dem eine alte, hinkende Frau heiße Nüsse verkaufte. Das Gedudel erinnerte an die Musicalfilme aus Hollywood und vermittelte eine warme, herzliche Atmosphäre. Die Musik war einfach und unschuldig und tauchte das Gemüt in Fröhlichkeit. Sie war wie die Vorfreude eines Kindes auf Weihnachten. Die Zigarette
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