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Boten des Lichts, Die Auserwählten (German Edition)

Boten des Lichts, Die Auserwählten (German Edition)

Titel: Boten des Lichts, Die Auserwählten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Víctor Conde
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Brüste zu schielen, um sich allzu lange darüber zu wundern. »Ich mag Uhren. Sie verkünden uns die Uhrzeit.«
    »Ja«, antwortete sie mit einem klangvollen Lachen in der Stimme. »Darin sind sie natürlich gut. Und sie erinnern uns, welchen Platz wir im Schema des Lebens einnehmen. Wie wenig Zeit uns noch bleibt.«
    »Der Gedanke erscheint mir ein bisschen zu philosophisch für diese späte Stunde. Oder bekommt dir der Martini nicht gut?«
    Das Mädchen schob den Fuß zu Eriks Stiefel vor und entfernte vorsichtig, nur mit der Schuhspitze, einen Papierzettel, der ihm an der Sohle kleben geblieben war. Der Werbeflyer eines Pubs.
    »Ich heiße Cassandra.«
    »Ah, die Geschichte kenn ich!« Er schnalzte mit den Fingern. »Ich habe mal einen Film darüber gesehen. Sie war die Sklavin von Achilles, oder?«
    Das Mädchen lachte schallend auf. Als sie den Kopf zurückwarf und ihre Mähne schüttelte, glaubte er, die Versuchung in Person vor sich zu haben.
    »Der Kandidat erhält null Punkte«, meinte das Mädchen. »Du meinst Briseis. Cassandra war eine Hellseherin aus Troja, die von Apollo schrecklich bestraft wurde: Sie konnte in die Zukunft sehen, aber immer wenn sie versuchte, ihre Familie vor dem nahenden Unglück zu warnen, nahm sie niemand ernst.«
    »Ah, ja … die Hellseherin. Jetzt erinnere ich mich. Diese Figur kam mir von allen Charakteren in dem Epos immer am absurdesten vor, ehrlich.«
    Der Gedanke schien sie neugierig zu machen. »Ach? Das ist ja interessant. Und warum?«
    »Nun, es mag ja vorkommen, dass ein Gott eingeschnappt ist, wenn er einen Korb bekommt. Aber wenn du wirklich in die Zukunft sehen kannst und schon weißt, dass dir niemand glaubt, warum erzählst du deinen Leuten dann nicht einfach das Gegenteil? Wenn du gesehen hast, dass Trojas Mauern fallen, warum erzählst du deinem Vater dann nicht einfach, dass sie für immer stehen bleiben werden? Dann würde er glauben …«
    »… genau das Gegenteil sei der Fall. Mit der Logik zu spielen, ist keine schlechte Idee. Aber auch das konnte Cassandra nicht.«
    »Warum nicht? Ist ihr so ein simpler Trick vielleicht nicht eingefallen?«
    Das Mädchen beugte sich über die Brüstung, und er konnte einen flüchtigen Blick auf ihren Hintern erhaschen. Sein Puls beschleunigte sich.
    »Doch, eingefallen ist er ihr schon. Und sie hat es auch ein paarmal damit versucht. Aber so einfach ist es nicht, die Götter zu überlisten.«
    Erik blickte zu der Pension hinüber, in der sie das Zimmer reserviert hatten. »Da sagst du was!«
    »Bleibst du länger auf der Insel?«, fragte sie ihn unbefangen.
    »Hm, das ist schwer zu sagen. Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht. Die Entscheidung liegt nicht bei mir.«
    »Und welche Entscheidungen triffst du immer so? Eher die, die gut für die Gesundheit sind, oder die anderen?«
    Erik erkannte verschiedene Ebenen in dieser unschuldigen Frage. Na ja, ganz unschuldig war sie auch nicht. In der Tat war sie sogar ziemlich rätselhaft.
    Er kam zu dem Schluss, dass die Bedeutung, die ihm am besten gefiel, die richtige sein musste, und beugte sich vor, auf der Suche nach ihren Lippen. Da hörte er von unten aus der Disco einen dumpfen Knall. Erik beugte sich erschrocken über das Geländer, aber offenbar war nichts Schlimmes passiert: Ein Scheinwerferturm war auf die Tanzfläche gestürzt, hatte aber zum Glück niemanden getroffen.
    Als er sich wieder zu Cassandra umdrehen wollte, um ihr die Parallele zwischen dem jüngsten Ereignis und ihrem Satz über die Uhren und die Zeit, die den Menschen noch blieb, zu erläutern, stellte er fest, dass das Mädchen verschwunden war. Spurlos. Als hätte es sie nie gegeben.
    Verwundert suchte er die Gassen und Durchgänge ab, die zu der Terrasse führten, einschließlich der Treppen, die den Platz mit den anderen Ebenen des Dorfes verbanden, doch von dem Mädchen fehlte jede Spur.
    Er blickte auf eine der vielen Uhren im Schaufenster. Bis zur Morgendämmerung waren es noch ein paar Stunden hin, aber die Lust, sich zu amüsieren, war ihm jetzt vergangen. Niedergeschlagen machte er sich auf den Weg zur Pension, das Bild von Cassandra vor Augen, wie sie wieder und wieder ihre Mähne in den Nacken warf.
    Und dabei kam sie ihm jedes Mal noch unwiderstehlicher vor.

KOMMUNION
    D ie Kirche stand auf dem höchsten Punkt der Insel, einem stumpfen Berggipfel mit einem herrlichen Panorama. Das Besondere an ihr waren die neun Glocken im Giebel, die in Pyramidenform angeordnet waren: fünf unten, drei

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