Boten des Lichts, Die Auserwählten (German Edition)
die ihr diese neu erworbene Fähigkeit eröffnete.Ägypten? Ha! Sie würde in ihrem Leben nie mehr einen Übersetzer brauchen. Sie könnte sogar nach Nepal reisen oder in die entlegensten Ecken Chinas! Allerdings würde sie diese Pläne erst einmal hintanstellen müssen, denn es gab Wichtigeres zu tun: Sie mussten die beiden Emos aus dieser dunklen Ecke herausholen, die der ideale Ort für eine Falle war.
Es kostete sie mehr als eine halbe Stunde, die beiden bis zur Pension zu schleppen. Die Dame am Empfang blickte ihnen misstrauisch nach, hielt sie aber nicht auf. In der Luft lag ein neuer Geruch, ein Hauch von Sandelholz. Ohne erkennbaren Grund hatten die Besitzer Änderungen an der Raumgestaltung vorgenommen und ein paar japanische Elemente hinzugefügt. Zarte Koto-Musik drang aus den Lautsprechern.
Die beiden Mädchen fragten gar nicht, ob sie die neuen Gäste mit auf ihr Zimmer nehmen durften, so erschöpft waren sie von der Anstrengung, die beiden Emos die steilen Gassen hinaufzuschleppen (die Hälfte der Straßen hatten eine Steigung von mindestens dreißig Prozent). Als sie die Tür zu ihrem Zimmer aufstießen und Eriks Namen riefen, erhielten sie keine Antwort.
»Er wird morgen früh auftauchen und erst mal seinen Rausch ausschlafen«, knurrte Tanya und legte Rhea vorsichtig auf dem Bett ab.
Sie schauderte beim Anblick ihrer geritzten Unterarme.
»Wir machen es immer gemeinsam«, erklärte Mauro matt. »Wir bedauern uns gegenseitig und ermutigen uns in unserem Leid.«
»Mein Gott, wie kommt ihr bloß auf so was? Ihr seid jung und schön … ihr habt noch euer ganzes Leben vor euch!«
Mauro machte eine Handbewegung, als handelte es sich um eine offensichtliche Lüge. »Manche unter uns hätten nie geboren werden dürfen. Wir taugen nichts auf dieser Welt.«
Séfora nahm Tanya beiseite. Sie richtete den Spiegel auf den Jungen.
»Tanya, schau dir das an.«
»Was denn?«
Sie traute ihren Augen nicht, als sie sah, wie ein zartes, durchscheinendes Element Mauros Spiegelbild ergänzte: Zwei Engelsflügel ragten aus seinem Rücken. Sie unterschieden sich deutlich von Séforas Flügeln. Anstatt weißer Federn mit rotem Saum besaßen sie ein blassgraues, aschfarbenes Gefieder mit einem Silberrand.
»Wie kann das sein?«, fragte Tanya verblüfft. »Ist er … ein …?«
»Nein, er ist nicht wie ich. Das habe ich gleich erkannt, als wir ihn gefunden haben. Er ist kein Engel, aber er ist auch nicht mehr ganz Mensch. Er hat sich auf halbem Weg verirrt, würde ich sagen.«
Tanya war sichtlich besorgt. »Aber … ein Teufel ist er nicht …?«, fragte sie vorsichtig.
Séfora schüttelte langsam den Kopf. »Nein. Er befindet sich in kritischer Nähe zur anderen Welt. Ein Stadium, in dem ihr auch sein werdet, wenn ihr meine Unterweisungen verinnerlicht habt.«
»Werden uns auch Flügel wachsen?«
»Mit der Zeit, ja. Sagen wir so, Mauro ist es gelungen, ein Stück des Weges alleine zurückzulegen. Ich wusste gar nicht, dass das möglich ist. Wahrscheinlich ist er deshalb so traurig«, überlegte sie. »Er hat den ersten Schritt in Richtung Göttlichkeit ganz allein getan, ohne einen Boten an seiner Seite, der ihn führt. Darum hat er meine Ankunft auch mit so großer Sehnsucht erwartet.«
Tanya musste die Neuigkeiten erst einmal verdauen. Nachdem sie den beiden Emos etwas zu trinken gebracht hatte (Rhea war inzwischen aufgewacht, weigerte sich aber hartnäckig, auch nur ein Wort zu sagen), fragte sie: »Und was passiert jetzt, wo wir alle versammelt sind?«
Séfora blickte aus dem Fenster auf den schwarzen Fleck am Horizont. Das Auge des Nea Kameni.
»Morgen werde ich mit den Unterweisungen beginnen. Ein Stück harte Arbeit wartet auf uns. Aber wenn Mauro es sogar alleine geschafft hat, ohne jegliche Führung …« Ihre Augen blitzten unheilvoll auf. »… dann werdet ihr es auch schaffen. Koste es, was es wolle.«
Erik fühlte sich wohl in seiner Haut. Die Atmosphäre war genau sein Ding. Die Musik, die Heiterkeit, das Gelächter, die unverhohlene Flirtstimmung … All das erinnerte ihn an seine besten Zeiten, als er immer genug Geld in der Tasche hatte und vor Vitalität und Jugendlichkeit nur so strotzte. Ihm gefiel der Gedanke, dass diese Zeit noch nicht gänzlich vorbei war. Dass es ihm trotz der schauerlichen Kreaturen, die ihn verfolgten, und seiner derzeitigen finanziellen Krise noch gelang, das Leben zu genießen.
Von einer erhöhten Terrasse aus betrachtete er das feuchtfröhliche Treiben
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