Boten des Lichts, Die Auserwählten (German Edition)
jeder Einzelne von ihnen schon gesehen hatte. Die blutrot geränderten schneeweißen Flügel. Den im Nichts treibenden titanischen Körper Luzifers. Den Wasserfall der Gefühle, der die Herzen der Menschen erschütterte und den Cherubim in Form von Gebeten das Leben zur Hölle machte.
Séfora wedelte mit der Hand, als wollte sie die Zeit zur Seite fegen. Und mit ihr die Wirklichkeit und alles, was sie repräsentierte. Und plötzlich war alles anders.
Mit geschlossenen (oder in Mauros Fall mit zusammengekniffenen) Augen konnten sie deutlich sehen, wie Ninives Geist den Tempel verließ, der ihn beherbergte, und sich auf den Weg in Richtung Unendlichkeit machte, dorthin, wo die Begriffe von Zeit und Raum keine Bedeutung hatten. Wartet auf mich. Ich werde eher zurück sein, als ihr denkt, bat sie und verschwand durch den Vorhang, der die Welten trennte.
Auf den Sturm folgte die Ruhe. Und die drei spürten, dass sie wieder einen Schritt nach vorn gemacht hatten, einen Schritt hin zu ihrem eigentlichen Wesen. Tanya spürte, wie sich die Kleidung, die sie am Körper trug, diese materielle Verpackung in teure, nichtssagende Kleidung, die ihr wahres Ich verschleierte, mit einem Mal auflöste, und neue Ausdrucksformen ihrer Seele entsprangen. Zum ersten Mal seit Langem fühlte sie sich frei, zufrieden, glücklich! Und plötzlich wusste sie: Was auch geschah, sie würde niemandem mehr etwas vorspielen müssen, nie mehr. Sie hatte ihr Herz geöffnet für das, was wahrhaftig aus ihm hervorbrach. Sie würde sich nie mehr den Verkleidungen einer Gesellschaft unterwerfen, Moderichtungen, die ihr von außen diktiert wurden. Ansichten darüber, was politisch korrekt oder für andere potenziell verletzend war. Keiner Art zu denken oder zu leben, die ihr von Leuten auferlegt wurde, die mächtiger und unglücklicher waren als sie.
Von nun an würde sie einfach nur sie selbst sein, die echte und unverstellte Tanya, die die göttliche Kraft gezielt lenken konnte, um die Kranken und Bedürftigen zu heilen, jene riesige Heerschar von Leidenden auf der Welt, und sie würde über dem stehen, was andere Leute von ihr dachten.
Erik erlebte es auf andere Weise, aber ebenso intensiv: Zum ersten Mal spürte er das Gewicht der Kürass, den Glanz und die Härte des Kriegsgewands, mit dem sich die Strafengel kleideten. Die verderbliche Liebkosung der Flammen, die seine Flügel einhüllten. Und er wusste, dass die Waffe, der er bedurfte, um dem Bösen die Stirn zu bieten, in seinem eigenen Herzen verborgen lag. Dort ruhte sein Schwert-Zeichen, das mit Séforas identisch und zugleich in seiner Art einzigartig war. Das die Signatur seiner Seele trug, aber auch die allen Hasses, den die Engel seit Anbeginn der Zeit gegenüber dem Teufel und seinem Gefolge empfanden. Das große Verlangen, Dämonen zu töten, ein Verlangen, das sich aus sich selbst nährte und so unendlich war wie der Kampf.
Mauro öffnete die Ohren für das Leid der Welt, und eine Schrecksekunde lang fürchtete er, die unaufhaltsame Welle aus Kummer und Schmerz würde ihn mit sich fortreißen und seine Seele zertrümmern. Aber so kam es nicht. Zum ersten Mal in seinem Leben verstand er, dass ihm die Klagen nur dann etwas anhaben konnten, wenn er gegen sie ankämpfte, wenn er versuchte, gegen den Strom zu schwimmen, wenn er der Fels sein wollte, an dem sich die Welle brach. Wenn er sie aber einfach zuließ, wenn er lernte, auf dem Tsunami zu navigieren und seinen Kurs beizubehalten, anstatt ihn einfach aufzugeben, dann ließ der Schmerz nach.
Dann konnte er sogar die Schwarze Flamme ertragen. Von allen Schrecken, die ihm die Geister zuflüsterten, von all den Dingen, die ihm Schmerzen bereiteten, war die Schwarze Flamme das Eindringlichste, Grausamste. Für Mauro war die Flamme eine Ikone, ein Symbol des Leidens, das er nie hatte begreifen und daher auch nie hatte dämmen können.
Er hatte sich die Theorie zurechtgelegt, die Flamme sei eine verdammte Seele, die zum schrecklichsten aller Leiden verurteilt war und deshalb noch gellender schrie als die anderen. Aber wenn dem so war, dann hatte Mauro weder ihren Namen noch die Umstände, die sie zu ihm geführt hatten, je herausgefunden.
In diesem Augenblick aber, als sich der Zweifel in Gewissheit verwandelte und Mauro die ersehnte Erkenntnis erlangte, als er vom Felsen zum Floß, von der Steilküste zum Becken, von der Einbahnstraße zum Scheideweg wurde, war auch die Schwarze Flamme nicht mehr so schmerzhaft.
Die Schreie waren
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