Boten des Lichts, Die Auserwählten (German Edition)
Konsequenzen für Rhea sein mussten, sodass sie ihren Wunsch respektierte. Sie schloss die Tür zum Schlafzimmer und begleitete Rhea auf Zehenspitzen zur Treppe.
»Ich werde ihm erst einmal nichts sagen, versprochen«, sagte sie. »Aber ehrlich, verstehen tu ich’s nicht.«
»Da gibt es nicht viel zu verstehen«, seufzte das Emo-Mädchen und ließ sich die halbe Mähne ins Gesicht fallen. Die Piercings in ihrer Unterlippe und in den Ohren funkelten im schwachen Schein der Lampe. »Mauro hat es geschafft auszubrechen. Aber ich bin immer noch mittendrin. Ich weiß nicht, wie er es gemacht hat, aber er hat mich zurückgelassen.«
»Mittendrin? Wo denn?«
Sie deutete um sich. »In der Wirklichkeit. In der Traurigkeit.«
»Rhea, ich habe euch nie danach gefragt, warum ihr vom Leben so sehr enttäuscht seid. Aber ich schätze, ihr habt schwerwiegende Gründe.«
»Und ob.«
»Vielleicht hast du das Gefühl, dass Mauro sich verändert hat, weil er endlich eine Antwort auf seine Hoffnungslosigkeit gefunden hat, ein Ventil für seinen angestauten Kummer. Aber … ist das denn schlecht? Empfindest du das Ende seines Leidens als Angriff auf deine Person?«
Rheas Lächeln ließ sie verstummen. Sie schien zu sagen:Würde ich mich dazu herablassen, dir nur einen Bruchteil von mir zu erzählen, was ich aber nicht tun werde …
Tanya wusste, dass man gewisse Dinge für sich behalten musste, weil ein Geheimnis, das man mit anderen teilte, für einen selbst nicht mehr zu gebrauchen war. Es hatte dann keinen Sinn mehr, es zu hegen und die Empfindungen zu genießen, die es im Innern hervorrief. Darum sah sie von weiteren Fragen ab. Wenn es zwischen Mauro und ihr nicht mehr stimmte und sie die Beziehung beenden musste, dann war es so. Kein Außenstehender konnte das beurteilen.
»Ich habe nie versucht, das Ausmaß von Mauros Traurigkeit zu verstehen. So wie er meine Grenzen auch nie verstanden hat«, erklärte das Emo-Mädchen. »Trotzdem war es zwischen uns von Anfang an harmonisch. Sein Vater … Ach, das ist zu kompliziert.«
»Hatte er Probleme mit seiner Familie?«
Rhea lächelte bitter. »Wenn du es ein Problem nennen willst, der einzige Sohn eines Vaters zu sein, der zweimal die Woche mit mehr Alkohol als Blut in den Adern nach Hause kommt, dann ja. Dann hatte Mauro Probleme.«
»Hat er denn niemanden, der ihn in Schutz nimmt?«, erkundigte sich Tanya und versuchte, einen Schauder zu unterdrücken. Geschichten von misshandelten Kindern jagten ihr einen größeren Schrecken ein als jeder Dämon aus der Hölle. Vor allem für Jugendliche wie sie, die das Glück hatten, in einem liebevollen familiären Umfeld aufzuwachsen, auf das man sich immer verlassen konnte, waren solche Geschichten kaum zu ertragen. Kinder wie Mauro hatten wirklich niemanden auf der Welt.
»Seine Mutter hat es wohl einmal versucht. Aber gegen den Zorn seines Vaters konnte sie nichts ausrichten. Der Alkohol war sein eigentlicher Herr, und wenn jemand es wagte, sich ihm entgegenzustellen, wurde er immer wütender. Eine Zeit lang hat sie die aggressive Art des Vaters sogar verteidigt, was für Mauro verheerend war. Irgendwann hat er sie dann so verprügelt, dass sie ins Krankenhaus musste, und Mauro …« Rhea zitterte mittlerweile am ganzen Körper. »An dem Tag beschloss er, dass er es nicht mehr länger aushalten konnte.«
»Er lief von zu Hause weg«, schloss Tanya.
»Er traute sich nicht, zur Polizei zu gehen. Er übernachtete an den widerlichsten und gefährlichsten Orten, die man sich vorstellen kann. Natürlich gab es auch Leute, die ihm etwas anhaben wollten. Einmal hätte ihm jemand beinahe eine Spritze verpasst. Aber etwas an Mauro ließ die Leute im letzten Moment zurückschrecken. Er selbst hat es ungefähr so beschrieben: Wenn die Leute entsprechend nah an ihn herangekommen waren, sahen sie sich in seinen Augen wie in einem Spiegel und rannten erschrocken davon. Mauro zeigte ihnen ihre wahre Niedrigkeit.«
»Klar. Er ist ja auch ein Cherub.«
»Als ich ihn kennenlernte, war er nur ein Schatten seiner Selbst«, erinnerte sich Rhea. Sie musste sichtlich die Tränen zurückhalten. »Ich sah in ihm die verwandte Seele, mit der ich meinen Schmerz und all die Zweifel teilen konnte, die mich quälten, Zweifel über die Zukunft und das Leben. Mein Gott, es gab Nächte, in denen mir der bloße Kontakt mit seinem Körper schreckliche Schmerzen bereitete.«
Sie warf einen Blick in den Müllbeutel, als wären darin außer den geklauten
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