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Boten des Lichts, Die Auserwählten (German Edition)

Boten des Lichts, Die Auserwählten (German Edition)

Titel: Boten des Lichts, Die Auserwählten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Víctor Conde
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musste, die Welt zu begreifen.
    Sie trug ihren Lieblingsschlafanzug mit den weißen Röschen. Flanell. In ihm war es so gemütlich. Er weckte schöne Erinnerungen an kalte Regennächte, in denen sie sich unter die Bettdecke gekuschelt und ein gutes Buch gelesen hatte.
    Sie streckte einen Arm aus. Ihre Muskeln fühlten sich steif an. Wie lange hatte sie geschlafen? Es fiel ihr schwer, die Benommenheit abzuschütteln.
    Sie fuhr sich mit der Hand durch die Haare. Na toll, König der Löwen. Es würde sie einige Mühe kosten, die Lockenmähne zu bändigen. Wenn sie heute vielleicht diese dämliche Intensiv-Glättungskur anwenden würde, die immer in der Werbung kam …
    Sie hielt inne.
    Was war hier eigentlich los?
    Sie erinnerte sich vage an einen Traum, einen sehr seltsamen dazu. Darin hatte es unzählige komische Kreaturen und Dämonen und andere Scheusale gegeben, an die sie sich lieber nicht erinnern wollte. Sollten Widerwärtigkeiten dieser Art doch im Abfluss des Vergessens verschwinden. Im Gully! Sie duldete keine Unannehmlichkeiten in ihrem Leben.
    Mochte doch bitte alles im Licht der Sonne und der Unschuld glänzen!
    Sie fühlte sich heute ganz und gar wie sweet Lolita. Schluss mit den dunklen Farben und den engen Korsetts des Gothic ! Es lebe das Leben! Sie wollte sich mit leuchtendem Rosa umgeben, mit guter Laune und tollen Wünschen für alle, die ihr auf der Straße begegneten, und sie wollte der ganzen Welt verkünden, dass es Tanya gut ging. Die Freude mit allen teilen! Konnte es ein größeres Vergnügen geben, wenn man jung war?
    Sie schlüpfte in ihr bestes Sweet- Lolita-Outfit. Die Haarschleifen kosteten sie ein wenig Mühe, aber als es vollbracht war, war sie das perfekte Ebenbild der kleinen Alice, die gerade in ein Loch gefallen und durch einen Spiegel gegangen war und sich nun in einer Welt befand, in der alles verrückt spielte. So wie in ihrer.
    »Papa, Mama, ich geh zur Schule«, trällerte sie und setzte den Rucksack auf. Sie ging am Schlafzimmer ihrer Eltern vorbei, aber niemand antwortete. »Papa, hast du mich gehört?«
    Sie blieb stehen. Etwas stimmte nicht.
    Sie öffnete die Tür und betrat das Zimmer. Das Ehebett war zerwühlt, die großen Laken hingen auf der einen Seite bis auf den Boden hinunter. Die Kissen hatten einen Ringkampf nur knapp überlebt. Im Wecker fehlten die Batterien.
    »Mama?«
    Jemand hatte ein Foto auf den Nachttisch gestellt. Es war halb versengt, so als hätte es zu nah bei einem Aschenbecher voller glühender Zigarettenstummel gestanden. Das Motiv war jedoch noch zum Teil zu erkennen.
    Es handelte sich um die Ansichtskarte einer paradiesischen Insel, auf der sie noch nie gewesen war. Santorin. Sie erkannte die blauen Kuppeln und die Umrisse der Bucht, die sie schon viele Male auf Werbebannern im Internet gesehen hatte. Kommen Sie in die Ägäis, hier machen Sie den Urlaub Ihres Lebens! Und wenn Sie freakig genug sind (das war jetzt frei erfunden), tun Sie es Spartas König Leonidas gleich und verteidigen Sie die unheilvollen Thermopylen, die sind auch gleich um die Ecke!
    Das Seltsame war, dass das Mädchen auf dem Foto ihr verdammt ähnlich sah. Und wirklich. Das war sie, obwohl sie noch nie einen Fuß auf Santorin gesetzt hatte.
    Verwundert sank sie auf die Bettkante nieder. Wie war dieser Schnappschuss in ihre Wohnung gekommen? Und warum erinnerte er sie so sehr an etwas, das nie passiert war? Es kam ihr vor, als wollte sich ihre Intuition mit aller Kraft bemerkbar machen und ihr etwas mitteilen. Komm schon, aufwachen. Zwei Ohrfeigen, rechts und links (paff, paff). Mensch! Hier passieren ganz komische Dinge. Dinge, um die du dich schleunigst kümmern solltest.
    Das Foto zerfiel vor ihren Augen zu Asche.
    Nein, sie wollte sich nicht erinnern. Der Gully des Vergessens, er war das Geheimnis ihres Lebens. Lass ihn seine Arbeit verrichten, Mädchen, und du, kümmere dich nicht darum.
    Sie ging in die Küche und schenkte sich ein Glas Sojamilch ein. Damit setzte sie sich ins Wohnzimmer auf das Sofa vor den Fernseher. Erstes Programm, Müll. Zweites Programm, Müll. Dritter Kanal … Hundertzwölfter Kanal? Müll.
    Sie schaltete den Fernseher wieder aus. Auf dem Wohnzimmertisch lag eine Nachricht. Sie stammte von ihren Eltern. Iljitsch hatte in seiner lustigen Linkshänderschönschrift geschrieben:
    WIR SIND BEI FREUNDEN.
    BLEIB NICHT ZU LANGE AUF.
    SCHLAF GUT, KUSS!
    Sie beschloss, auf sie zu warten. Es würde bestimmt nicht mehr lange dauern. Sie wollte sie

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