Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Boten des Lichts, Die Auserwählten (German Edition)

Boten des Lichts, Die Auserwählten (German Edition)

Titel: Boten des Lichts, Die Auserwählten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Víctor Conde
Vom Netzwerk:
sowieso noch um etwas Geld bitten, damit sie mit Luis ausgehen konnte. Der arme Kerl hatte so wenig Geld, dass er seine Ersparnisse für das lang ersehnte Auto in Gefahr brachte, wenn er sie ins Kino und danach noch auf einen Drink einladen musste.
    Und sie wartete.
    Und sie wartete.
    Und sie wartete.
    Tanya blickte auf die Uhr. Die Zeiger bewegten sich auf Punkt acht Uhr zu, aber sie kamen niemals an.
    Moment, sagte sie zu sich . Was mache ich eigentlich um acht Uhr morgens in voller Ausgehmontur, bin ich nicht eben erst aufgestanden? Und warum sind meine Eltern um diese Zeit bei Freunden eingeladen?
    Sie stand vom Sofa auf. Sehr seltsam. Wirklich. Aber ihr Geist steckte tief in einer Art Nebel, der sie keinen klaren Gedanken fassen ließ (Stimmen waren da im Hintergrund und der Geruch von Meer, Lava und Salpeter), und natürlich hatte ihre Mutter ihr beigebracht, dass es sich ein braves Mädchen zweimal überlegen sollte, bevor sie jemandem die Stirn bot.
    Bevor sie der Wirklichkeit die Stirn bot.
    »Nein!«, schrie sie und schlug mit der Faust auf den Glastisch. Der Tisch zerbrach. Ihr schmerzten die Hand, der Arm, der Kopf … Der Schmerz drang unaufhaltsam wie ein tödlicher Virus in ihren Organismus ein und hinterließ in ihrem Mund sogar den faden Geschmack von Blut.
    Blut? Von wem?
    Hinter der Tür zu ihrem Zimmer ging etwas vor. Ein gleißendes Licht, der Geruch des Meeres, angsterfülltes Wimmern, Katastrophenlärm aus der Konserve, falsches Gelächter im Hintergrund. Ha, ha, ha, die Schauspielerin reißt einen Witz, ha, ha, lass dem Publikum ein bisschen Zeit zum Applaudieren.
    Tanya bereitete sich gerade innerlich darauf vor, durch den dunklen Flur in Richtung ihres Zimmers zu gehen, als sie es dort liegen sah.
    Ihr Tagebuch, in das sie seit ihrer Kindheit regelmäßig hineinschrieb. Es lag auf dem Tisch, an eben der Stelle, auf der ihre Faust das Glas getroffen hatte.
    Sie nahm es in die Hand. Schlug es an einer x-beliebigen Stelle auf.
    Ihr fünfzehnter Geburtstag. In jeder Hinsicht ein Jahrestag. Sie musste lächeln, als ihr die Details wieder einfielen. Erdbeertorte mit Schleifen aus Karamell, ihre Lolita-Freundinnen, dem Anlass entsprechend gekleidet. Es fehlte nur die Rote Königin, die ihre Enthauptung forderte. Die einzige Geköpfte blieb bis zum Schluss glücklicherweise die Torte.
    In dieser Nacht war sie zum ersten Mal mit einem Jungen im Bett.
    Ein paar Zeilen waren ihren Eltern gewidmet.
    Sie hatten an dem Abend einen Ausflug mit dem Auto gemacht, aber der Vergaser ging kaputt, und sie mussten den Abschleppdienst anrufen. Das gab Tanya Gelegenheit, ihre Jungfräulichkeit zu verlieren. Sie hatte sich seither unzählige Male gefragt, ob ihre Eltern die Panne mit Absicht herbeigeführt hatten. Unsere Tochter ist jetzt alt genug, geben wir ihr ein bisschen Raum. Danke, Papa, für dein Vertrauen. Gott sei Dank hatte ich ein Kondom in der Tasche.
    Große Erinnerungen. Luis. War es er? Nein, es muss einer davor gewesen sein. Luis war nicht so romantisch, wie sie es sich gewünscht hätte, aber er hatte nach besten Kräften ein höfliches Verständnis an den Tag gelegt, das bewirkte, dass die Vereinigung ihrer Körper immerhin etwas so Wunderbares wurde wie das Leben selbst. Sie rechnete es ihm hoch an. Er war der schlagende Beweis, dass nicht alle Männer während des Geschlechtsverkehrs nur an sich dachten. (Nein, so war es nicht. Es passierte am Strand, er hatte zu viel getrunken und führte sich auf wie ein Bengel. Er war beleidigend und unsanft. Ich habe die ganze Nacht geheult.)
    Ihre Zimmertür erzitterte. Sie war halb geschmolzen. Ein Glutbecken funkelte wie ein Höllenfeuer auf der anderen Seite. Tanya hielt ihr Tagebuch an die Brust gedrückt.
    Jetzt wurde ihr immer klarer: Sie träumte noch. Sie lag in ihrem Bett, friedlich schlummernd, und träumte, dass sie aufgewacht war und dass ihre Eltern um acht Uhr morgens bei Freunden waren. Natürlich! Es wäre nicht das erste Mal, dass sie mitten in einem Traum feststellte, sie träumte. Ein merkwürdiges Gefühl.
    Jetzt konnte sie sich entweder sorglos auf dem Sofa zurücklehnen und auf ihre Eltern warten, versunken in das behagliche Gefühl, das mit der Vorstellung von Heim und Familie einherging, oder aber sie lief den Gang hinunter, öffnete diese verfluchte Tür und ließ den Albtraum über sich hereinbrechen. All die Erinnerungen, die der Gully noch nicht verschluckt hatte. Die Insel, das Meer, das Feuer …
    … den Kampf.
    Nein, sie

Weitere Kostenlose Bücher