Bottini, Oliver - Louise Boni 01
Entschlossenheit wie-dergewonnen. Sie nahm ein Notizbuch und einen sil-bernen Kugelschreiber aus ihrem Lederkoffer, trank einen Schluck Wasser, räusperte sich und sagte, sie müsse sich nun endlich ein Bild machen.
«Ein Bild?»
«Von Ihrem Zustand.»
«Ah.» Louise erhob sich und setzte sich in einen der beiden Sessel auf der anderen Seite des Couchtisches. Sie zog die Beine an und kontrollierte den Sitz des Bademantels. Dies war nicht der richtige Moment für den entscheidenden Schritt in den Abgrund. Sie musste sich auf Fröbick und Pham konzentrieren.
Darauf, nicht zu trinken. Aber wann war schon der richtige Moment?
Schweigend wartete sie auf die erste Frage.
Drei Stunden später stand sie wieder unter der Dusche. Vor dem Spiegel dachte sie noch einmal, dass alles vielleicht ganz anders war. Ihr Anblick und das Bild, das Katrin Rein angefertigt hatte, schienen nicht kongruent zu sein. Sahen so Gamma-Alkoholiker in der Prodromalphase aus?
Der Spiegel beschlug, ihr Anblick verschwamm.
Während sie pinkelte, wurde ihr bewusst, dass mit diesen merkwürdigen Begriffen ein neues Leben begonnen hatte.
Im Bademantel kehrte sie ins Wohnzimmer zurück.
Katrin Rein lag auf dem Sofa. Sie war eingeschlafen und sah, auf ihre puppenhafte Weise, sehr hübsch und sehr erschöpft aus. Ihre Wangen waren gerötet, aus dem Gummiband hatten sich einzelne Haarsträhnen gelöst. Sie hatte sich in den vergangenen drei Stunden viel Mühe gegeben. Als hätte sie sich vorgenommen, Louise zu retten, koste es, was es wolle. Auf einem Notizblatt hatte sie eine horizontale Linie gezeichnet und in die Abschnitte Prodromalphase, kritische Phase, chronische Phase unterteilt. Hier ungefähr sind Sie, hatte sie gesagt und vor die Grenze zwischen Prodromalphase und kritischer Phase «Louise» geschrieben. Sie sind Alkoholikerin, aber Sie sind noch im Anfangsstadium der Krankheit.
Der Krankheit.
Neben dem Notizblatt lag eine Liste mit Telefon-nummern «freiwilliger Suchthelfer» – in der Mehrzahl ehemalige Alkoholiker. Daneben standen die Namen von Selbsthilfegruppen, Fachkliniken, Therapieein-richtungen. Katrin Rein hatte vorsichtig angedeutet, dass nach einer etwa zweiwöchigen Entgiftung in einer Klinik die psychische Entwöhnung ambulant stattfinden könne. Der Weg in den Abgrund war steiler, als sie gedacht hatte, der Weg hinaus dafür wo-möglich weniger unangenehm.
Sie nahm die Wolldecke von der Sofalehne und deckte Katrin Rein zu. Die öffnete kurz die Augen, schien jedoch nicht aufzuwachen.
In der Küche trank sie Sternwaldwasser und aß ei-ne Scheibe Vollkornbrot. Irritiert versuchte sie, sich zu erinnern, wann und weshalb sie Vollkornbrot gekauft hatte. Dann fiel ihr ein, dass es von ihrem Vater sein musste. Sie fragte sich, wie es ihm gehen mochte. War er schon damit befasst, die unmittelbare Vergangenheit zu ändern? Oder versuchte er, doch noch den Mut aufzubringen, sich ihren Fragen zu stellen?
Sie überlegte, ob die Fragen nach der Vergangenheit ihrer Familie wirklich so wichtig waren, dass sie die Gegenwart derart stark beeinträchtigen durften.
Sie fand, ja. Die Fragen hatten damit zu tun, wer sie war.
Aber vielleicht gab es trotzdem Möglichkeiten, den Kontakt zu ihrem Vater aufrechtzuerhalten.
In diesem Moment klingelte das Telefon in der Tasche ihres Bademantels. Sie antwortete noch vor dem zweiten Läuten. Es war Lederle. Fröbick hatte sich gemeldet.
Ein Streifenwagen war auf dem Weg zu ihr.
«Ruf mich von unterwegs an», sagte Lederle.
«Warte! Was ist mit den Kindern?»
«Wissen wir nicht.»
Sie lief zum Sofa und legte das Mobilteil in die Ba-sisstation. Katrin Rein war nicht aufgewacht. Auf dem Tisch lag die Skizze mit der horizontalen Linie. Sie starrte auf ihren Namen.
Prodromalphase, Gamma-Alkoholikerin, Krankheit.
Beim Anziehen spürte sie, dass ihr Tränen über die Wangen liefen.
19
ZEHN MINUTEN SPÄTER stand sie vor der Polizei-obermeisterin, die ihr in der Scheune nahe Münzenried aufgeholfen hatte. Sie stellte sich mit «Zancan»
vor. «Mutter Italienerin», erklärte sie. Louise lächelte flüchtig und sagte: «Vater Franzose.» Zancan lächelte ebenfalls und fragte, ob Louise fahren wolle. Sie schüttelte den Kopf. Zancan schien zu wissen, wohin es ging, denn sie erkundigte sich nicht. Schweigend schaltete sie das Martinshorn ein und fuhr über den Werderring in die Kronenstraße.
Louise starrte in die weiße Nacht hinaus. Dann rief sie Lederle an. «Weiß Rolf, dass ich
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