Bottini, Oliver - Louise Boni 01
Schneefall nicht trocknen konnte.
«Wir müssen was tun, der erfriert uns ja», sagte Hollerer zu niemand Bestimmtem. In die Menge kam Bewegung, verhaltenes Stimmengewirr setzte ein.
Der Mönch rührte sich ebenfalls. Er hob den Kopf und schlug die Augen auf. Sie waren sehr schmal und wirkten, fand Hollerer, leblos und traurig. Langsam glitten sie über die Liebauer. Hin und wieder schien der Blick des Mönchs für einen Moment auf einem Gesicht zu verweilen, dann bewegte er sich weiter.
Auch auf Hollerer ruhten die schmalen Augen sekundenlang. Der Blick war merkwürdig. Nicht unfreundlich, aber merkwürdig. Wissend. Hollerer konnte sich den Blick nicht erklären. Der Mönch sah ihn an, als würde er ihn kennen. Als wüsste er etwas über ihn, das Hollerer selbst nicht wusste.
Dann wandte der Mönch den Blick ab.
«Und was sollen wir tun?», fragte Ponzelt, der Bürgermeister. «Sollen wir ihm sagen, dass Betteln bei uns verboten ist?» Ein paar Liebauer schnaubten be-lustigt.
Hollerer trat wieder zu dem Mönch. Einen Meter vor der Schale blieb er stehen. Jetzt sah er, dass sich auf ihrem Grund Wasser angesammelt hatte. Er beugte die Knie ein wenig, bückte sich und stützte die Hände auf die Oberschenkel. Am rechten Ellbogen spürte er das Pistolenhalfter. Plötzlich kam er sich lächerlich vor. «Sie müssen ins Warme», sagte er. «Sie sind doch ganz nass, Sie holen sich ja den Tod.»
Der Mönch zeigte den Ansatz eines Lächelns. Hollerer bemerkte, dass er noch jung war. Zumindest sah er jung aus. Hollerers Kollege Niksch war Anfang zwanzig und sah nicht viel jünger aus.
Der Mönch deutete auf die Schale, dann auf seinen Mund. Dabei senkte er den Kopf mehrmals, als wollte er sich verbeugen oder bedanken oder einfach nur nicken.
«Er will Geld», sagte jemand aus dem Halbkreis hinter Hollerer.
Hollerer stieß ein Knurren aus, griff nach der Schale und drehte sie um. Nachdem das Wasser herausge-laufen war, trocknete er sie mit dem Jackenärmel, so gut es ging. Dann legte er ein Zwei-Euro-Stück hinein und stellte die Schale wieder vor den Mönch, der ihn reglos beobachtet hatte.
Hollerer hob einen Finger und zeigte auf die eigene linke Wange und dann auf seine rechte Schädelseite.
«Was – sein – passiert?»
Aber der Mönch legte nur die Hände vor der Brust zusammen, verneigte sich leicht und schloss die Augen. Hollerer wollte ihn bitten, sie wieder zu öffnen und ihn noch einmal so anzusehen wie vorhin. Doch weil der Mönch ihn wohl nicht verstanden hätte, sagte er nur: «Lasst ihn in Ruhe, ich bin gleich wieder da.»
Als Hollerer mit zwei Käsebrötchen aus der Metz-gerei zurückkehrte, schien auf den ersten Blick alles wie vorher zu sein. Der Mönch saß mit geschlossenen Augen da, die Liebauer, inzwischen etwa vierzig, standen im Halbkreis um ihn herum. Doch Hollerer spürte, dass sich die Stimmung verändert hatte.
Wie zur Bestätigung ergriff Ponzelt ihn am Arm, zog ihn unter seinen Regenschirm und führte ihn ein Stück beiseite. «Unsere Leute werden unruhig», sagte er, den Blick auf den Mönch gerichtet. «Du musst ihn wegschaffen.»
Hollerer starrte schweigend auf einen Wassertropfen, der an Ponzelts Nasenspitze hing.
«Sie fragen sich», fuhr Ponzelt fort, «ob da, wo der herkommt oder hingeht, noch mehr von seiner Sorte sind. Ob jetzt jeden Samstagvormittag solche Typen nach Liebau kommen, um zu betteln. Du weißt schon, Hare-Krishna-Typen und Baghwan-Typen und so.
Unsere Leute finden, sie haben genug Probleme, auch ohne dass sich hier irgendwelche Sekten breit machen.»
Endlich fiel der Wassertropfen von Ponzelts Nasenspitze. Auch Hollerer wandte sich jetzt dem Mönch zu.
«Verstehst du?», fragte Ponzelt. «Die Leute sind unruhig in diesen Zeiten. Woher wissen wir, dass er und seine Kollegen nicht was vorhaben?»
Hollerer nickte, aber er schwieg. Er fragte sich, ob er auch das war, was Ponzelt war, ein Opportunist, der vieles in die Wege leitete und nie schuld war. Der so glatt war, dass die Schuld sich nicht an ihm fest halten konnte.
Seit Amelies Tod kamen ihm öfter merkwürdige Gedanken. Gedanken wie: Bin ich ein Pessimist? Ein Optimist? Bin ich ein Egoist? Ein Opportunist? Frü-
her, ohne solche Gedanken, war das Leben einfacher gewesen, fand er. Er hatte gegessen, gearbeitet, geschlafen und mit Amelie gestritten. Aber er hatte keine merkwürdigen Gedanken gehabt.
«Könnte ja auch sein, dass …», sagte Ponzelt, doch in diesem Moment schlug der Mönch die Augen
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