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Bottini, Oliver - Louise Boni 01

Titel: Bottini, Oliver - Louise Boni 01 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mord im Zeichen des Zen
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gewesen, als sie gedacht hatte.
    Sie wünschte, er hätte nicht angerufen. In ihrem Kopf war jetzt kein Platz für die Sorgen anderer.
    «Er ist nicht sehr groß», sagte Lederle.
    «Wer?»
    «Der Tumor.»
    «Wo ist er?»
    «Im Darm. Aber wir kriegen ihn, mach dir keine Sorgen. Keine Metastasen bis jetzt … Ich will dich nicht mit Kleinkram belästigen. Du siehst, wir müssen jetzt beide stark sein.»
    «Es tut mir Leid.»
    «Ja, mir auch. Aber wir kriegen ihn. Er ist zu schwach für mich. Er hat keine Chance. So muss man das sehen, Louise. Wir gewinnen.»
    Sie legten auf. Ja, dachte sie, wir gewinnen. Sie erhob sich, holte die Tuicaflasche unter der Spüle hervor und ging ins Erdgeschoss.

    20
    DER FEBRUAR BLIEB KALT, erst Anfang März wurde es wärmer. Als sie nach Freiburg zurückkehrte, waren Eis und Schnee getaut. Einer der kältesten Winter der letzten Jahrzehnte ging seinem Ende entgegen.
    Hugo Chervel hatte den Mégane bringen lassen. Im Briefkasten lagen der Wagenschlüssel, die Rechnung und eine Grußkarte samt der Hausnummer, vor der das Auto stand. Sie stellte die Reisetasche ab und trat auf die Straße. Der rote Mégane hatte jetzt eine blaue Motorhaube und eine blaue Fahrertür. Im Armaturenbrett sah man noch das Einschlagsloch einer Kugel. Sogar ein unversehrtes Radio hatte Chervels Schwager eingebaut.
    Trotzdem beschloss sie, sich im Frühling ein neues Auto zu kaufen. Veränderungen im Leben brauchten Symbole. Ein Auto war ein gutes Symbol. Die Veränderungen waren zu sehen, zu hören, zu riechen, mit den Händen zu spüren. Kein Statussymbol, sondern ein Aufbruchssymbol. Ein Auto, für das immer Sommer wäre. Ein Kabrio.
    Auf dem Anrufbeantworter befanden sich neun Nachrichten, dann war die Bandkapazität erschöpft gewesen. Barbara Franke und Enni fragten jeweils zweimal, wo sie sei und warum sie sich nicht melde.
    Ihr Vater sagte: Es ist Sonntagmorgen, Louise, wo in aller Welt bist du?
    Richard Landen sagte, er sei wieder da und «hätte doch gern gewusst, wie alles ausgegangen» sei. Anatol und Katrin Rein riefen mit leichten Variationen: Willkommen daheim. Katrin Rein fügte hinzu: Sie haben die Entgiftung geschafft, jetzt schaffen Sie die Entwöhnung auch noch.
    Lederle sagte, es gehe ihm wieder ein Stückchen besser, er hoffe, ihr auch. Erneut entschuldigte er sich dafür, dass er sie so lange angelogen hatte. Seine Stimme klang müde und nicht mehr nach «Wir gewinnen». Er schwieg einen Moment und sagte dann:
    «Was sind wir bloß für eine Gesellschaft, Louise?
    Sonntags stehe ich auf dem Schlossberg und schaue auf Freiburg runter und frage mich: Was sind wir für eine Gesellschaft? Wann kümmern wir uns endlich um unser Fundament? Wann diskutieren wir mal wieder über Werte, statt über Steuersenkungen und Arzneimittelzuzahlungen und die Börse? Wo sind die Kinder, Louise? Ich schaue auf meine Stadt und mein Land hinunter und frage mich: Wo sind die sechsund-fünfzig asiatischen Kinder? Und all die anderen Kinder, von denen wir nichts wissen? Wie viele sind in Freiburg gelandet? Wie viele leben da unter mir in den Klauen von Sexualverbrechern? Was sind wir für eine Gesellschaft, dass wir solche Krankheiten und Perversionen produzieren und dann nicht den Mut haben einzugestehen, dass wir sie produziert haben?
    Kindesmissbrauch ist nicht mal anzeigepflichtig.»
    Dann war das Band voll gewesen.
    Sie leerte die Reisetasche, packte sie neu und verließ die Wohnung. Lederle würde sich wie die anderen Anrufer ein paar Wochen gedulden müssen.
    Der Mégane klang, als wäre nichts passiert. Ein weiterer Grund, ihn abzustoßen.
    In Zillisheim kaufte sie Brot und Obst und trank im Stehen in einer dunklen Bar Café au lait. An zwei Tischen saßen alte Männer und spielten Karten. In ihren Mündern steckten Zigaretten, vor ihnen standen Glä-
    ser mit Pastis und Kaffeetassen. Sie lachten und rede-ten viel, manchmal legten sie eine Karte ab. Sie hatte sich immer vorgestellt, dass auch ihr Vater irgendwann einmal jeden Vormittag in einer Bar sitzen, Pastis trinken und Karten spielen würde. Es hätte ihr gefallen. Weshalb, wusste sie nicht.
    Als sie die Bar verließ, begann es leicht zu regnen.
    Sie hatte während der vergangenen Wochen zweimal mit Lederle, einmal mit Almenbroich, einmal mit Justin Muller telefoniert. Jean Berger und der Franzose, der sie erschossen hätte, wenn Natchaya es nicht verhindert hätte, waren noch immer flüchtig. Der Fahrer des Audi, der zusammen mit Steiner und dessen

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