Bottini, Oliver - Louise Boni 01
Taro,
«der bisher einzige Verdächtige», im Kloster gelebt.
Zweitens seien Justin Muller zufolge in der vergangenen Woche in Zillisheim drei Unbekannte «vermutlich osteuropäischer Herkunft» gesehen worden, die sich nach dem Kanzan-an erkundigt hätten. Drittens hätten BKA und BND kürzlich wiederholt vor Terror-anschlägen ausländischer Gruppen gewarnt.
Ganz unten in der Akte lagen die Fotos, die Niksch gemacht hatte. Taro von hinten, Taro von der Seite, Taro als kleiner Punkt im weißen Nichts. Hollerer und sie im Streifenwagen. Hollerer und sie vor dem Streifenwagen. Auf keinem der Fotos waren Gesichter zu erkennen.
Rasch griff sie nach der Handakte.
Stichpunkte von Lederle zu den Einsatzbesprechungen der Soko Liebau belegten, dass sich die Ermittlungen aufgrund mangelnder Alternativen auf das Kanzan-an konzentrierten. Sie fragte sich, ob das Kloster observiert wurde. Dann hätten die französischen Kollegen sie und Richard Landen gesehen.
Sie blätterte weiter. Eine Notiz von Bermann: Da-tum, Uhrzeit. Hab mit Asil d’enfants (Jean Berger) i. Basel tel. Hat zugesagt, dass sie die Kinder unauff. aus dem Kloster schaffen.
Bermann, der Kindernarr. Niemand in der Direktion hatte seine Frau jemals nicht schwanger gesehen.
Im Augenblick wuchs sie mit dem vierten Sprössling.
Bermann war inzwischen Kreisssaalexperte und durfte assistieren.
Sie schlug den Hefter zu. Ihr Blick fiel erneut auf die Hauptakte. Viel würde noch nicht darin sein. Der Tatortbefundbericht. Der Spurensicherungsbericht.
Die Fotos des toten Niksch.
Sie zog die Spurenakte heran. Obenauf lagen Fotos der Fußeindrücke von Hollerers und Nikschs Verfol-gern. Keine auffälligen Merkmale. Die Spuren kamen von einer nahen, schmalen Straße. Dort hatte ein Wagen gestanden. Sie überflog die Daten zu den Reifen.
Sie passten nicht zu den Spuren auf dem Parkplatz vom Kanzan-an.
Dann breitete sie die Aufnahmen der Reifeneindruckspuren, die die Techniker am Waldrand östlich von Liebau aufgenommen hatten, in der Reihenfolge vor sich aus, in der Lederle sie geordnet hatte: erst Orientierungs-und Übersichtsaufnahmen, dann Teil-
übersichts- und Detailaufnahmen mit Maßstab.
Die Spuren im Schnee zeigten, dass der Wagen am Waldrand entlanggekommen war, dann gewendet hatte und zurückgefahren war. Sie legte ihre misslun-genen Skizzen neben die Fotos. Die Maße stimmten in etwa überein. Auch die Eindrücke wiesen, wenn sie sich richtig erinnerte, Ähnlichkeiten auf.
Dann tauchten erste mögliche Unterschiede auf.
Mit jeder weiteren Minute wurden es mehr.
Sie trank ein, zwei Schlucke, aber die Unterschiede blieben.
Nach zehn Minuten gab sie auf. Wütend steckte sie eine der Detailaufnahmen ein, die anderen schob sie in die Hülle zurück. Sie legte die Akten aufeinander und erhob sich.
Nur Lederle würde auffallen, dass aus zwei Stapeln einer geworden war.
Auf dem Heimweg hielt sie vor dem Sushi-Imbiss.
Durch die beschlagene Fensterscheibe erkannte sie, dass innen Hochbetrieb herrschte. Enni stand am Tresen, auf drei Seiten von Gästen umgeben. Das gelbe Haar leuchtete im grellen Licht. Mit stoischer Ruhe nahm er Bestellungen auf. Sie sah ihn nicken, sprechen, nicken. In der Rechten hielt er einen Stift. Er steckte ihn sich hinters Ohr, nahm ihn wieder herunter. Lächelte, nickte, schrieb.
Sie stieg aus.
Während sie auf den Imbiss zuging, dachte sie an Schneiders und Anne Wallmers Bericht. Ein vages Gefühl der Unruhe ergriff sie. Was geschah im Kanzan-an? Waren Annegret Schelling, Pham und die anderen Kinder tatsächlich in Gefahr?
Als sie die Eingangstür öffnete, drang ihr der Geruch nach Fisch entgegen. Obwohl sich in dem kleinen Raum mindestens zwanzig Gäste drängten, herrschte kein Lärm. Niemand sprach laut, Musik gab es nicht. Ein Mann lachte gedämpft.
An einem der Stehtische standen, auf die Ellbogen gestützt, zwei junge Polizeimeister in Zivil. Sie richte-ten sich kauend auf und nickten ihr zu. Louise erwiderte den Gruß. Erst als sie an ihnen vorbei war, wurde ihr bewusst, dass sie nicht gelächelt hatte.
Am Tresen schob sie eine Frau beiseite. Die Frau sagte: «He.» Enni sagte: «Guten Abend, Kommissar.»
Sie bedeutete ihm, ihr Stift und Block zu geben, und schrieb Privat- und Handynummer darauf.
Enni nickte. Er schien gewusst zu haben, dass sie für die Reise zum Mittelpunkt des Weltalls auf ihn zurückkommen würde. Im Gegensatz zu ihr schien er auch zu wissen, ob diese Reise nach innen oder nach unten
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