Bottini, Oliver - Louise Boni 01
Ich achte nicht auf Autos, ich meine, ich interessiere mich nicht für Autos.»
«Klein, groß? Dunkel, hell? Flach, hoch?»
Landen seufzte. «Irgendwas … Großes, Helleres.»
«Was heißt ‹was Helleres›?»
«Hellbraun, Beige, vielleicht grau. Hellblau. Dun-kelgelb. So in der Richtung.»
«Was soll das für eine Richtung sein?»
Richard Landen zuckte die Achseln und grinste drohend.
«Haben Sie einen Fotoapparat dabei?»
Er schüttelte den Kopf.
«Können Sie zeichnen?»
«Nicht besonders.»
«Scheiße, was können Sie eigentlich? Ich meine, können Sie irgendwas Sinnvolles?»
«Ja, heimfahren.»
Aber er machte keine Anstalten einzusteigen.
Sie grunzte eine Entschuldigung und kniete vor dem Abschnitt der Reifenspur nieder, der am deut-lichsten war. Reifenein- oder abdrücke waren Lederles Domäne. Bermann behauptete, Lederle könne aus Reifenspuren sogar lesen, was die Insassen des Wagens gedacht hätten.
Sie überlegte kurz. Sie hatte Haarspray zum Fixie-ren im Auto, aber keinen Gips.
Sie holte ein Maßband aus dem Wagen, zog Notiz-heft und Stift aus der Tasche, kniete sich wieder hin.
Sie maß Spur- und Reifenbreite, Eindrucktiefe. Dort, wo der Wagen geparkt gewesen war, ließ sich auch der Radstand annähernd feststellen. Das Profil war asymmetrisch. Rechts Längsrillen, links Querrillen.
Richard Landen beobachtete schweigend und mit offensichtlichem Interesse, was sie tat.
Sie drehte sich so, dass er ihr nicht über die Schulter sehen konnte, und begann zu zeichnen. Sie ver-brauchte vier Seiten, dann gab sie auf. Ihre Hand zitterte zu stark. Mehr als ungleichmäßig gezackte Linien und unidentifizierbare geometrische Figuren brachte sie nicht zustande.
«Okay», sagte sie und sank auf den Hintern. «Am besten, Sie fahren jetzt, ich hab hier noch länger zu tun.»
Richard Landen erwiderte nichts.
Kälte und Feuchtigkeit drangen an ihre Haut. Sie wollte, sie hätte Landen vorhin geküsst. Sie wollte, Roshi Bukan wäre hier. Sie wollte, sie wäre am Sonntag an Nikschs Stelle gewesen.
Kinderspuren, Reifenspuren. Unbrauchbares Ge-krakel und ein Handschuhfach ohne Handschuhe.
Tankstellenbesuche um Mitternacht. Warme, minderjährige Hände.
Plötzlich sah der Abgrund anders aus. Egal, wo sie sich befand: Sie stand mitten drin.
«Bitte fahren Sie, ja?»
Landen öffnete die Wagentür. «Rufen Sie mich morgen an.»
Sie nickte.
«Sonst rufe ich an.» Er stieg ein.
Das Scheinwerferlicht geriet in Bewegung und ließ sie im Dunkeln zurück.
Während sie den roten Heckleuchten des Volvos nachsah, schob sie die Hand in die Anoraktasche.
Dann ließ sie sich nach hinten sinken.
10
GEGEN HALB ACHT war sie in Freiburg. Der Schnee war vollkommen weggetaut. Eine elektroni-sche Anzeige an einem Gebäude zeigte sechs Grad.
Mit ein bisschen Fantasie lag der Geruch nach Früh-lingsblumen in der Luft.
Roman, der Zivildienstleistende, war schlaksig, übermüdet und bekämpfte das Elend der Kranken-hauswelt mit rastloser Hilfsbereitschaft. Er wusste über jeden Patienten auf der Intensivstation Bescheid und erzählte ihr auf dem Weg von der Anmeldung vier Biografien samt Leidensgeschichten.
Hollerer war sein Lieblingspatient. Er las ihm jeden Tag zwei Seiten aus Der Fremde vor, ob Hollerer nun schlief oder nicht, und kannte seine Krankenakte auswendig. «Er ist über den Berg», sagte er und fuhr sich mit den Handflächen über die Haarstoppeln.
Auf einem Stuhl vor dem Eingang der Intensivstation saß ein blasser, dünner Mann. Er trug einen dun-kelblauen Anzug, Krawatte, eine hellbraune Winter-lederjacke. «Abend, Herr Ponzelt», sagte Roman, und der Mann nickte.
Sie brauchte einen Moment, bis sie den Namen zuordnen konnte: Ponzelt, der Bürgermeister von Liebau. Der einen Kreuzzug hatte führen wollen. Der zu den Menschen gehörte, die Gefahren spürten.
Jetzt schien er nichts zu spüren. Ohne stehen zu bleiben, sagte sie: «Na, wie war’s beim Skifahren?»
Ponzelt richtete sich argwöhnisch auf.
Sie betraten die Intensivstation.
Hollerer schlief. Er erinnerte nur noch entfernt an den grimmigen, rotwangigen Mann, den sie vor Augen hatte, wenn sie an ihre Begegnungen zurückdach-te.
Sie blieb eine halbe Stunde bei ihm, hielt seine erschreckend kraftlose Hand. Bei dem Gedanken an den Moment, in dem er wieder vollständig bei Bewusstsein war, wurde ihr schlecht. Er musste erst noch damit zurechtkommen, dass es Niksch nicht mehr gab.
Roman begleitete sie hinaus. Ponzelt fragte, wer sie sei,
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