Bottini, Oliver - Louise Boni 01
Dörfern gab es Menschen, die alles sahen, alles hörten, alles wussten.
Sie setzte sich auf. Sie würde am Vormittag nach Liebau fahren und diese Menschen suchen. Falls einer der Wagen dort gesehen worden war, kam vielleicht ein weiterer Hinweis dazu. Ein Gesicht, eine Stimme, ein Kennzeichen.
Dann, am Nachmittag, wenn keine Gefahr bestand, dass sie Justin oder ihren Kollegen in die Arme lief, würde sie ins Kanzan-an zurückkehren.
Aus dem Schlafzimmer drangen tiefe Atemzüge.
Für einen Moment wirkte die Wohnung belebt und eng.
Draußen begann es allmählich heller zu werden.
Sie langte hinter sich und zog die Vorhänge beiseite.
Kein Schnee. Schemenhaft deutete sich ein Leben jenseits des Winters an. Ein Leben ohne die Bilder von Calambert. Von Niksch.
Ein Leben im Abgrund.
Was, außer Kampf und Unterwerfung, gab es? Diese Frage würde sie Richard Landen gern stellen. Oder Enni.
Dem Roshi.
Zensu no harm people. Zensu look Buddha-nature. Look own-nature. Look shunyata. Konnte ein Mensch, der so dachte und sprach, in einen Mord verwickelt sein?
Nur, wenn er log.
Log der Roshi? Ein Mensch, der nach einer komplizierten Form der Leere strebte? Der die Dinge bis auf das karge Wesentliche enthüllte? Der ihre wahre Natur suchte, was auch immer das sein mochte?
Diese Menschen sind anders, hatte Richard Landen gesagt. Sie sind nicht an Dingen interessiert, deretwegen gelogen wird. Sie haben sämtliche menschlichen Begierden überwunden. Alles, was sie brauchen und suchen, tragen sie in sich.
Nein, dachte sie, der Roshi log nicht. Der Roshi nicht, Taro nicht. Bei Georges, dem französischen Novizen, war sie sich nicht sicher. Georges mochte lügen.
Und die anderen Mönche und Nonnen kannte sie nicht.
Doch wenn auch sie wie der Roshi und Taro nicht an Dingen interessiert waren, deretwegen gelogen wurde, konnte das nur eines bedeuten. Die Bereitschaft, Gewalt auszuüben, einen Menschen zu entführen, auf Polizisten zu schießen, war nicht im Kanzanan entstanden. Sie war ins Kanzan-an hineingebracht worden.
Von drei Männern, die osteuropäisch aussahen.
Wer blieb sonst noch? Sie sank zurück aufs Sofa.
Asile d’enfants.
Sie aßen die Pizza zum Frühstück. Anatol war im hellen Danach genauso gelassen wie im dunklen Davor, nur müder. Ohne die stützende Sonnenbrille fielen ihm die Locken über die Augen. Er trank beäng-stigende Mengen Kaffee und gähnte ausgiebig.
Manchmal lächelte er sie an. Aber er schwieg.
Anfangs kam ihr das gelegen. Sie dachte an Annegret Schelling und Pham, der neue Eltern bekam. An das, was Georges über die Waisenkinder in den buddhistischen und christlichen Heimen in Asien er-zählt hatte.
Was wusste sie sonst über Asile d’enfants? Dass es in Basel einen Jean Berger gab, der Bermann zugesagt hatte, die Kinder unauffällig aus dem Kloster zu schaffen. Dass die Betreuer am Montag mit den Kindern auf einem nahen Pony-Hof und deshalb für Justin Muller nicht zu sprechen gewesen waren.
Am Montag, dem Tag danach.
Doch was sollte Asile d’enfants mit drei Osteuropäern zu tun haben, die im Verdacht standen, Niksch ermordet und Hollerer verletzt zu haben? Eine Organisation, die mit UNICEF und terre des hommes zu-sammenarbeitete?
Sie fragte sich, ob sie ähnliche Überlegungen angestellt hätte, wenn sie nicht ausgemustert, sondern bei Bermann, Lederle und den anderen gewesen wäre.
Wenn sie über deren Informationen verfügt und an den Einsatzbesprechungen teilgenommen hätte. Sich regelmäßig mit ihnen ausgetauscht hätte.
Sie stand auf, ging zur Spüle, kniete nieder, Anatol bemerkte nichts.
Als sie sich wieder zu ihm setzte, sagte sie: «Und?»
«Und was?»
«Irgendwas passiert, worüber wir sprechen sollten?
Hast du dich in mich verliebt? Hast du ein schlechtes Gewissen, weil du mich mit deiner Oma identifi-zierst? Bereust du’s?»
«Ja, da wär was.» Er goss sich Kaffee nach. «Was ist Barclay James Harvest?»
Sie grinste. «Die Kitschdroge der Siebziger. Du weißt, dass es mal eine Zeit gab, die man ‹die Siebziger› nannte?»
«Hab davon gehört.»
«Wie alt bist du?»
«Vierundzwanzig.»
«Na, dann sind sie ja in deinem Ausweis verewigt.»
Er nickte. «Was ich mich manchmal frag, ist: Was war vorher? Vor den Siebzigern? Das liegt so ewig zurück, dass ich mich frag, ob da überhaupt was war.»
«Nein, da war nichts, bloß Chaos. Hör mal, die Sonnenbrille behalte ich, okay?»
«Okay.» Er stand auf.
«Was hast du
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