Bottini, Oliver - Louise Bonì 02
die warme, schwere Müdigkeit.
Endlich schlafen. Aber am Rande ihres Bewusstseins saß plötzlich ein Wort, das sie nicht schlafen ließ.
Marcel.
Sie öffnete die Augen. Marcel, der überall war. Auch hier?
Sie fand den Gedanken vollkommen absurd. Weshalb hätte er sie hier beobachten sollen? Trotzdem glitt ihr Blick über die dunkle, halbhohe Hecke, die den Garten vom Nachbargrundstück trennte. Er war in ihrer Wohnung gewesen.
Natürlich war nichts zu sehen.
Und doch – Marcel war da, wenn nicht da draußen in der Dunkelheit, dann irgendwo in ihr. Sie stand auf. »Gehen wir rein.«
Sie gingen ins Wohnzimmer, legten sich einander gegenüber auf die Kissen. Ihre bloßen Füße berührten sich. Louise schloss die Augen, öffnete sie. Mit Marcel war die Erinnerung an Peter Mladic gekommen.
Peter Mladic aus Lahr, die Großmutter Serbin aus Banja Luka in Bosnien.
Ihr wurde bewusst, dass ihr ein, zwei Sekunden Erinnerung fehlten. Wie auf dem Weg nach Günterstal, als ein Kilometer gefehlt hatte. Ihr fehlte die Erinnerung an den Moment, als Peter Mladic getroffen worden und zu Boden gestürzt war. Sie begriff, dass sie es nicht gesehen hatte. Sie hatte die Augen geschlossen, unmittelbar bevor Bo geschossen hatte. Sie hatte sie geöffnet, unmittelbar nachdem Peter Mladic gefallen war. Kein Sekundenschlaf. Sie hatte einem Instinkt gehorcht. Sie hatte es nicht sehen wollen.
Automatische Schutzmechanismen, die den Körper steuerten.
Richard Landens Blick lag auf ihr. Sie lächelte flüchtig. Jetzt nichts sagen, Ritsch, bin am Nachdenken.
Sie wusste, was Traumata anrichten konnten. Wie tief sie sich ins Unterbewusstsein fressen, was sie noch Jahre später anrichten konnten. Calambert war eine Art Trauma. Aber es gab schlimmere. Einer ihrer Kollegen war als junger Beamter von einem Bankräuber als Geisel genommen, erst nach Stunden befreit worden. Jahrelang hatte ihm nicht einmal seine Frau angemerkt, dass etwas nicht stimmte. Fünfzehn Jahre später war er im Urlaub weinend kollabiert und in einer Trauma-Ambulanz aufgewacht.
Sie war froh, dass sie manchmal die Augen schloss.
Sie dachte an Pauling, der die Augen sicherlich nicht geschlossen hatte. An Bo, der während des Krieges in seiner Heimat ein Kind gewesen war. An die zahllosen Menschen in Kroatien, Bosnien, Serbien, die Grauenvolles erlebt und keine Trauma-Ambulanzen hatten.
An Thomas Ilic, der sich die Angst nicht hatte anmerken lassen. Der minutenlang gezittert hatte, nachdem alles vorbei gewesen war.
»Ich habe absolut keine Ahnung, wo du mit deinen Gedanken bist«, sagte Richard Landen. »Du könntest überall sein.
Vielleicht schläfst du auch.«
Sie lächelte wieder. Wie sehr sie solche Momente vermisst hatte. »Was weißt du über den Jugoslawienkrieg?«
»Welchen?«
»Den von 1991.«
Sie erzählte von Heuweiler und Bo, von Thomas Ilic und Peter Mladic aus Lahr.
Landen setzte sich auf. »Um Gottes willen, das ist ja …«
Sie sahen sich an. Mein Beruf, dachte sie. Das ist mein Beruf.
An solche Geschichten musst du dich gewöhnen.
An Verbrechen.
Er schüttelte den Kopf. »Wie furchtbar.«
»Was weißt du über den Jugoslawienkrieg?«
Landen sagte nichts. Er hatte den Blick abgewandt.
»Ja«, sagte sie. »Es ist furchtbar.«
»Und verdammt verantwortungslos.«
»Du warst nicht dabei, Richard. Es hätte gut gehen können.«
»Er war Serbe. Es war ja wohl abzusehen, was geschehen würde.«
»Er war kein Serbe, er war Deutscher.«
»Dann wäre er noch am Leben, oder?«
Sie nickte zögernd. Mal war man Deutscher, mal nicht.
»Und du? Du musst doch ganz … Du hast miterlebt, wie ein Mensch ermordet wurde. Ein Kollege. Und du bist ganz ruhig?«
Sie setzte sich ebenfalls auf. Sie fingen früh an, einander nicht zu verstehen. Vielleicht war das gut. So entstanden keine Illusionen.
Sie nickte wieder. »Ich habe es miterlebt, und ich werde es nie vergessen. Das ist vielleicht schon alles.«
Richard Landen war in die Küche gegangen, um sich eine Tasse Espresso zuzubereiten. Sie nahm an, dass er nachdachte. Sich fragte, ob er sich mit solchen Geschichten konfrontieren wollte.
Sie legte sich auf den Rücken. Mein Beruf, meine Geschichten, dachte sie. Teil meines alten Lebens, Teil jedes neuen Lebens.
Mit dem Menschen bekommst du seine Geschichten, Ritsch.
Als er zurückkam, sagte sie: »Du hast kein Recht, mich dafür zu kritisieren, wie ich mit dem umgehe, was ich miterlebe.«
Er setzte sich neben sie, stellte die Tassen ab. »Ich
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