Bottini, Oliver - Louise Bonì 02
weiß. Aber wie soll ich damit umgehen?«
Sie nickte. Auf diese Frage mussten sie eine Antwort finden, falls das, was heute geschah, eine Fortsetzung hatte. Sie dachte an Mick. Micks Antwort war einfach gewesen: Ich will das nicht hören, Lou. Ich will, dass du diesen Scheißberuf endlich aufgibst. Ich will jetzt vögeln, Lou.
Richard Landens Hand lag plötzlich auf ihrem Bauch, halb auf dem T-Shirt, halb auf der bloßen Haut. Aber sie schien nur dort liegen zu wollen, nicht mehr.
Immerhin, dass sie dort lag, war auch eine Art Antwort.
Auf welche Frage auch immer.
»Der Jugoslawienkrieg, Richard.«
»Hm. Das kann dauern.«
»Wir haben doch jetzt Zeit.«
Er zog die Hand weg, legte sich auf den Rücken. Nun, sagte er, eigentlich sei es ja ganz einfach gewesen. Die Slowenen und die Kroaten hätten den serbisch dominierten Staatenbund verlassen wollen, die Serben hätten das verhindern wollen. Die Slowenen und die Kroaten hätten sich für unabhängig erklärt, die Serben hätten den Krieg begonnen.
»Aber«, sagte Louise gähnend.
»Das Aber ist das Problem«, sagte Richard Landen.
»Wie immer«, sagte sie und schlief ein.
Sie träumte von Jugoslawien. Der Traum war chaotisch, blutig, unverständlich, ein einziges Durcheinander und doch sehr präzise. Der Zweite Weltkrieg kam darin vor, der Erste, Österreich-Ungarn, der faschistische kroatische Staat Ustascha mit seinen Konzentrationslagern, mordende serbische Tschetniks, Tito-Partisanen, die kroatische und deutsche Faschisten umbrachten und viele Zivilisten gleich mit. Das alte rotweiße Schachbrettmuster, Wappen der Ustaschen, Wappen des neuen, souveränen Kroatien. Krajina-Serben, die einst konstituierendes Volk gewesen und dann zur Minderheit erklärt worden waren, in einem plötzlich fremden Staat die Autonomie ausriefen. Serbische Milizen und serbische Schlächterbanden, serbische Massaker, serbische Flüchtlinge. Das Leid der Muslime, die ethnische Säuberung. Die kontraproduktive frühe Anerkennung der neuen Staaten durch Deutschland und Österreich, die manchmal tendenziöse Berichterstattung westlicher Medien. Die Propaganda der Nationalisten auf drei Seiten. Drei verblendete alte Männer. Srebrenica kam in dem Traum vor, das Massaker an den Muslimen vor den Augen der tatenlosen Welt. Und immer wieder träumte sie Fragen. Was stimmte, was stimmte nicht? Was war Propaganda, was nicht?
Was war da wirklich geschehen? Alles, was berichtet worden war? Welche Rolle hatte die Religion gespielt? Wie sollte Versöhnung möglich sein, wenn keine wirkliche Aufarbeitung stattfand? War es zu früh dafür? Wie sollte es in dem künstlichen Gebilde Bosnien und Herzegowina mit seinen beiden Entitäten und seinen drei Ethnien weitergehen? Wann begann eine internationale, sachliche Rekapitulation der Ereignisse? Konnte man das nur dem Internationalen Gerichtshof überlassen? Konnte man Staaten in die EU
aufnehmen, die sich nicht miteinander ausgesöhnt hatten?
Warum arbeiteten die westlichen Medien ihre Berichterstattung nicht auf? Demokratie, träumte sie, war doch auch objektive Berichterstattung. Das mit uns, Louise, träumte sie, könnte vielleicht was werden, aber es wird Zeit brauchen. Das Aber, träumte sie, ist immer das Problem.
Stunden später schreckte sie hoch. Es regnete in Strömen, die Luft war feucht und schal. Von irgendwo war eine leise, vertraute Melodie zu hören.
Richard Landen lag ihr zugewandt auf der Seite und schlief. Er hatte die Arme vor der Brust verschränkt, den Mund leicht geöffnet, die Augenbrauen leicht gehoben. Er schien selbst im Schlaf nachzudenken. Sie legte ihm die Hand auf die Wange.
Mach dir keine Gedanken, mach dir doch nicht immer Gedanken. Es ist einfach so, wie es ist.
Sie stand auf, um die Terrassentür und die Fenster zu schließen, hielt inne. Die Melodie stammte von Erik Satie.
Sie fand ihr Handy auf dem Dielenschränkchen.
»Illi«, stand auf dem Display.
Es war kurz vor drei Uhr.
»Wir haben uns reinlegen lassen«, sagte Thomas Ilic.
19
SIE GING, OHNE RICHARD LANDEN ZU WECKEN. Leise zog sie die Haustür zu. Am Gartentor blickte sie im Regen zurück. Die Zweige der Weide bewegten sich unter den schweren Tropfen auf und ab. Das Haus selbst war dunkel und stumm. Mehr denn je war es Tommos Haus. Sie wollte zurückgehen, um Richard Landen zu wecken, ihn aus diesem dunklen Haus herauszuholen. Sie wusste, dass das Unsinn war.
Es war sein Haus. Er musste es schon von selbst verlassen.
Für einen
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