Bottini, Oliver - Louise Bonì 02
kahlköpfig, trug Anzug und Krawatte, eine Brille.
»Mahr?«, flüsterte sie.
Thomas Ilic nickte. Sie nickte ebenfalls.
Rücken an Rücken setzten sie sich auf den Rasen. Fünf, sechs Minuten lang beobachteten sie den Mann im Wohnzimmer, das Haus, den Garten, die Hecke. Mahr rührte sich nicht, niemand kam oder ging. Der Mann und die Frau aus Islamabad waren nicht da. Marcel war nicht da.
»Übrigens«, flüsterte Thomas Ilic dicht an ihrem Ohr.
Die Forensiker des BKA hatten sich die Aufzeichnung ihres Gesprächs mit Marcel angehört und erste Vermutungen geäußert. Kindheit hier in der Region, Jugend in Norddeutschland, vermutlich Bremer Raum, dialektale Einfärbungen aber durch langjähriges Sprechtraining fast vollkommen abgeschliffen. Anfang Vierzig, gehobenes soziales Niveau, akademische Ausbildung. Bestimmend, berechnend, klug. Kaltblütig. Leidenschaftlich. Sie sah Marcel vor sich, nickte.
Die Details würden folgen.
»Und was sagen die Forensiker über mich?«
»Sie rätseln noch, zu welcher Spezies du gehörst.«
Sie lachten lautlos.
Ihr Blick kehrte zu Mahr zurück. Zum ersten Mal fragte sie sich, wie er auf die Vorwürfe reagieren würde. Wie er war.
Auf wen er wartete.
»Illi …«
»Der wartet auf irgendwen.«
»Ja.«
»Die Frage ist: auf wen?«
Sie schüttelte den Kopf. Sie kannte die Antwort.
Die Thujenhecke zog sich um das ganze Anwesen. Am Gartentor und an der Einfahrt zur Garage war sie unterbrochen, der Blick auf das Gebäude frei. Das Licht links war jetzt aus, das andere brannte noch.
Ein gelbes Klingelschild aus Ton, eine fröhliche Sonne mit vier Namen. JOHANNES, SUSANNE, TOBIAS, FLORIAN
MAHR. Susanne und die Kinder lebten in Stuttgart, hatte Thomas Ilic gesagt.
Sie überprüften die Waffen, zogen die Dienstausweise hervor.
Sie dachte an Hannes Riedinger, der allein in Räumen für fünf Menschen gelebt hatte. An Richard Landen, der allein sein würde, wenn er heute aufwachte. An Johannes Mahr, der morgens um vier allein in seinem Wohnzimmer auf seine Verhaftung wartete. Sie dachte, dass das Leben letztlich darauf hinaus lief, allein zu sein.
Gedanken in der Dunkelheit, der Müdigkeit.
Thomas Ilic sah auf die Uhr. »Drei Minuten noch.«
Sie hob die Augenbrauen.
»Paragraph 104 StPO.«
»Ja?«
»Wir dürfen Wohnungen zwischen einundzwanzig und vier Uhr nur bei Verfolgung auf frischer Tat oder Gefahr im Verzug betreten und durchsuchen.«
»Ich wusste nicht, dass die StPO so viele Paragraphen hat. Ich habe bei Paragraph 1 aufgehört zu lesen.«
Thomas Ilic lächelte schwach. »›Die sachliche Zuständigkeit der Gerichte wird durch das Gesetz über die Gerichtsverfassung bestimmt.‹«
»Der beste Roman könnte nicht spannender beginnen. Seit zwanzig Jahren überlege ich, was das bedeutet.«
»Ich erkläre es dir, wenn du möchtest.«
»Nächste Woche, Illi.«
»Zwei Minuten«, sagte Thomas Ilic.
Sie warteten.
»Okay«, sagte Thomas Ilic schließlich. Aber er bewegte sich nicht. Sie hatte den Eindruck, dass er am Ende seiner Kraft war.
Seiner Selbstbeherrschung.
»Das muss jetzt sein, Illi. Nur das noch.«
Er nickte.
Sie öffnete das Gartentürchen, lief zum Haus, die Walther in der einen, den Dienstausweis in der anderen Hand. Ihr Blick glitt über die Tür, die Fenster des Hauses, die Ecken, immer wieder, hin und her, man wusste ja nie. Am Rande ihres Bewusstseins registrierte sie Obstbäume, einen Basketballkorb, ein kleines Fußballtor, ein Wäschekreuz, dachte, ein Garten für vier Menschen, und fragte sich, warum ihr so etwas immer auffiel.
Thomas Ilic schloss zu ihr auf.
Sie klingelte. Langsame Schritte erklangen, Mahr öffnete. Sie stellten sich vor, Mahr warf einen Blick auf die Ausweise, nickte. Er trat zur Seite, sagte nur: »Bitte«.
Nicht mehr.
Mahr hatte wieder auf dem Sessel Platz genommen, Louise und Thomas Ilic standen ihm gegenüber. Thomas Ilic informierte ihn, dass gegen ihn Haftbefehl erlassen worden sei, dass sie hier seien, um den Haftbefehl zu vollstrecken, dass ihm der Haftbefehl am Morgen in Kopie in der Polizeidirektion ausgehändigt werde. »Ja«, sagte Mahr und nickte und sah weder sie noch Thomas Ilic an.
»Möchten Sie Ihre Frau anrufen? Eine andere Person Ihres Vertrauens? Einen Ihrer Söhne?«
»Nein«, sagte Mahr. »Nein. Ich habe meinen Anwalt angerufen, aber er ist nicht da, er ruft nicht zurück.« Er hob die Hände, starrte auf seine Finger. Er hatte kleine Hände, kleine Finger, wirkte insgesamt zerbrechlich,
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