Bottini, Oliver - Louise Bonì 02
obwohl er sehr groß war, so groß wie Täschle, schätzte sie, aber er saß krumm. Er hatte einen weißen, kurz gestutzten Vollbart, nur noch über den Ohren weiße, kurz gestutzte Haare. Seine Augen waren gerötet, er trug eine tropfenförmige Brille. Ein harmlos wirkender Hinterbänkler, der es auf Umwegen in den Landtag geschafft hatte, Experte für irgendwelche komplizierten internationalen juristischen Sachverhalte, für die man als Wähler gern einen Experten im Landtag wusste.
Mahr senkte die Hände, sagte, ohne aufzusehen: »Ich vermute, er ist im Urlaub, und jetzt weiß ich nicht genau, was ich machen soll.«
»Viele Möglichkeiten haben Sie nicht«, sagte Louise.
»Nein.« Mahr zog ein Stofftaschentuch hervor, hob ungelenk die Brille an, trocknete sich die Augen. »Ich bin froh, dass es
…«
»Das ist keine Vernehmung, Herr Dr. Mahr«, unterbrach Thomas Ilic leise. »Sie müssen sich weder jetzt noch bei einer Vernehmung zu den Beschuldigungen äußern. Haben Sie das verstanden?«
»Ja.« Mit zitternden Händen faltete Mahr das Taschentuch zusammen, schob es in die Sakkotasche.
Sie warteten. An der Decke summte ein Lampenakku, für einen Moment das einzige Geräusch im Haus.
»Ich bin froh, dass es vorbei ist«, sagte Mahr. »Dass zwei Menschen sterben mussten, ist …«
»Herr Dr. Mahr«, sagte Thomas Ilic.
»Drei Menschen«, sagte Louise.
Mahr sah auf. »Drei?«
»Herr Dr. Mahr, das ist keine Vernehmung.«
»Lass doch, Illi.« Sie sahen sich an. »Einfach nur reden, okay?«
»Ja«, sagte Thomas Ilic. Sein Blick war glanzlos, unruhig.
Durchhalten, Illi, dachte sie, nur noch ein paar Minuten. Er nickte. Also, dann erzähl’s ihm. Ich schaff das schon.
Sie erzählte von Heuweiler, von Bo und Peter Mladic.
Lew Gubnik, Hannes Riedinger, Peter Mladic. Drei Tote.
Thomas Ilic hatte sich abgewandt. Mahr rieb sich mit den Händen über die Oberschenkel. »Ich wollte etwas Gutes tun, und dann mussten drei Menschen sterben.«
»Etwas Gutes«, sagte sie.
»Ja, natürlich. Ich …«
»Sie wollten mithelfen, Musharraf umzubringen«, sagte Thomas Ilic.
»Ich wollte mithelfen, Pakistan zu einem demokratischen Staat zu machen. Einem Vorposten der Demokratie im Mittleren Osten. Keine Demokratie von Amerikas Gnaden, abhängig von Amerikas Interessen. Eine Demokratie, die den komplizierten Anforderungen Vorderasiens gerecht werden würde und trotzdem Demokratie wäre. Das geht mit Musharraf nicht.
Solange er regiert, bleibt Pakistan eine Diktatur – und ein Pulverfass. Pakistan ist eine Atommacht, Sie wissen das.
Innenpolitisch ist es eine Melange aus unterschiedlichsten Interessen. Irgendwann werden die Fliehkräfte zu stark sein, dann … Aber das wird Sie nicht interessieren. Die drei Toten interessieren Sie.«
»Auch die anderen Toten«, sagte Louise.
»Musharraf wäre ermordet worden«, sagte Thomas Ilic,
»vielleicht andere. Vielleicht hätte es einen Bürgerkrieg gegeben.«
»Ja, das wäre der Preis gewesen. Ein Bürgerkrieg. Eine kurze, blutige Rebellion der Mehrheit gegen die Minderheit. Jetzt wird es diese Rebellion vielleicht nie geben, sondern andere Kriege, Interessenskriege, wenn die Fliehkräfte zu stark geworden sind.
Jeder gegen jeden. Ohne die Rebellion, die ich unterstützen wollte, wird Pakistan über kurz oder lang zu einem neuen Libanon werden. Das kann doch niemand wollen. Demokratie oder Chaos, ich bitte Sie, wir haben doch die Wahl. Und einen Preis müssen wir in jedem Fall bezahlen – egal, wofür wir uns entscheiden.« Mahrs Stimme klang resigniert. Er wollte sie nicht bedrängen, nicht überzeugen.
»Gehen wir«, sagte Thomas Ilic. »Ich kann das nicht mehr hören. Sie sprechen zu leichtfertig über die Toten anderer Familien.«
»Nein, nein«, sagte Mahr. »Nicht leichtfertig, glauben Sie mir.
Der Preis ist entsetzlich hoch, das weiß ich. Aber die Demokratie ist es wert. Es ist der Preis der Demokratie. Die Demokratie kostet Menschenleben.«
»Gehen wir«, sagte Thomas Ilic.
»Sie verstehen mich«, sagte Mahr beinahe sanft und hob die Hand, als wollte er Thomas Ilic berühren. Aber er saß zu weit von ihm entfernt. »Sie haben jugoslawische Vorfahren, nicht wahr? Sie haben einen jugoslawischen Namen.«
»Ich verstehe gar nichts. Zum Beispiel verstehe ich nicht, warum Sie die Morde an Hannes Riedinger und Peter Mladic so schockieren, wenn Sie in Pakistan einen ganzen Bürgerkrieg anzetteln wollten.«
Mahr zog die Hand zurück. »Mord und Bürgerkrieg, das
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