Bottini, Oliver - Louise Bonì 02
Stunde verlassen, war nicht gekidnappt worden.
Sie wollte etwas sagen, ließ es. Bermann war schon fort, die anderen drängten zur Tür. Sie stand auf, trat hinter Thomas Ilic in den Flur. Ein Mann, eine Frau aus Islamabad, dachte sie, unterwegs in Freiburg, vielleicht auf der Flucht, vielleicht auf der Jagd.
Drei Uhr dreißig am Morgen, als sie das Gebäude verließen, noch immer kein Regen in der Stadt, noch immer drückende Schwüle, weil die schweren, tiefen Wolken – so erklärte sie es sich zumindest – die Luft hier unten stauten. Sie nahm sich vor, später, wenn sie Mahr geholt hatten, in den Regen zu fahren, sich in den Regen zu stellen. Er würde die Müdigkeit fortwaschen, die Kopfschmerzen, alles, was nicht in ihren Kopf und in den Breisgau gehörte. »Wohin würdest du an ihrer Stelle gehen?«, fragte sie Thomas Ilic.
»Hm.«
»Viele Möglichkeiten haben sie nicht.«
»Nein.«
»Busche, die Lehrerin, Mahr.«
»Ja.«
»Die Lehrerin gehört nicht dazu, hat Marcel gesagt. Vielleicht stimmt wenigstens das.«
»Ja, vielleicht.«
Sie stiegen in Thomas Ilic’ Dienstwagen. »Ich würde zu Mahr gehen«, sagte sie.
»Warum?« Er legte den Schnellhefter auf die Ablage.
Wenigstens, dachte sie lächelnd, würden sie sich nicht verfahren.
»Wegen Aziza.«
»Aziza ist seit dreizehn Jahren tot.«
»Vielleicht ist sie ein Bindeglied.«
»Noch eine Schlüsselfigur, meinst du?«
»Vielleicht, ja.«
Gähnend legte sie den Kopf zurück. Während Thomas Ilic den Motor anließ, fragte sie, ob sie ein aktuelles Foto von Johannes Mahr dabei hatten. Ja, hatten sie. Er wies mit dem Kopf auf den Schnellhefter. Sie nickte. Aber sie hatte keine Kraft mehr, sich das Foto anzusehen. Sie dachte wieder an den Mann und die Frau aus Islamabad, die in Freiburg auf der Flucht oder auf der Jagd waren. Doch als sie die Augen schloss, sah sie Bo und Peter Mladic und Thomas Ilic. Sie saßen auf der Lichtung nahe Heuweiler und hatten aufgehört zu sprechen.
Sie öffnete die Augen, legte die Hand auf Thomas Ilic’ Arm, nahm sie wieder weg. Berühren oder heulen, dachte sie, und geheult hatte sie gerade erst.
»Alles in Ordnung«, sagte er.
»Gut.«
Aber sie glaubte ihm nicht. Seine Stimme klang belegt. Sein Gesicht leuchtete weiß in der Dunkelheit. Was in Heuweiler geschehen war, schien ihn erst nach und nach zu erreichen.
Wagen glitten vorüber, fahle Gesichter hinter den Scheiben, sie winkte Anne Wallmer, sah Löbinger, der sie nicht beachtete, auf einem Beifahrersitz, im Fond den jungen, nervösen Blonden aus seinem Dezernat. Er hatte die Nase gegen die Scheibe gedrückt und lächelte ihr schüchtern zu.
Sie lächelte mütterlich zurück. Die Jugendphase war vorbei.
Jetzt waren die Gestandenen dran.
Dann fielen ihr die Augen zu, sie schlief ein, den Kopf am Fenster, schreckte hoch, als sie begriff, dass sie standen.
Orangefarbenes Neonlicht umgab sie, eine Tankstelle, Thomas Ilic war draußen. Sie sah eine Frau in der Dunkelheit eines frühen Morgens aus einem französischen Auto steigen, in den Shop gehen, kleine Sonntagsparty, kleine Mittwochsparty, kleine Geburtstagsparty, auf dem Tresen standen Orangensaft, Cola und der Rest. Ein halbes Dutzend Flaschen, manchmal mehr, drei Tüten, ein paar Bögen von Ronescus Badischer Zeitung, die Rückkehr sollte ja lautlos erfolgen. Dann langsam zum Auto gehen, dort kamen die Tüten mit den schallgedämpften Flaschen in eine Reisetasche. Immer dasselbe, ein Ritual, Selbstverständlichkeit. Nur die Orte wechselten, manchmal war sie bis Lahr gefahren, bis Bad Krozingen.
Manchmal erkannte sie an einem Blick, einer Geste, dass sie an einem vermeintlich neuen Ort doch schon gewesen war, die Frau mit der kleinen Party, den Flaschen, drei Tüten, ach ja, sie hatte sich gezwungen, dem Blick standzuhalten. Thomas Ilic kam zurück, stieg ein, während ihr Schauer über den Rücken liefen, was für ein Leben, ein Leben aus Lügen, Scham, Erniedrigung. Aber, dachte sie, sie hatte es doch geschafft, sie hatte dieses Leben doch beendet und ein neues begonnen, das war doch alles fast vorbei, das Leben davor, das Leben danach, da gab es eben doch gravierende Unterschiede. Nur die Erinnerung an die Scham, das Leid, die blieb, ein Gefühl in der Haut, das nicht mehr weichen würde. Eigentlich, dachte sie, ein gutes Gefühl. Es half bestimmt beim schwierigen Unterfangen Leben.
Später fragte sie, um nicht wieder einzuschlafen, nach Bermann, was war denn eigentlich mit dem Rolf los,
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