Bottini, Oliver - Louise Bonì 02
zurück. In ihren Beinen, ihrem Kopf, ihrem ganzen Körper hatte sich Erschöpfung breit gemacht. Steh auf, dachte sie, und such Täschle. Ruf irgendjemanden an, Bermann, Almenbroich, nein, ruf Richard Landen an. Zieh dein T-Shirt aus und wickle es um die Wunde. Tu irgendwas.
Aber das alles wäre viel zu anstrengend gewesen. Liegen zu bleiben war angenehmer. Auch im Februar im Elsass war sie liegen geblieben. Ein Hund hatte sie gefunden. Auch in diesem Wald musste es Menschen mit Hunden geben. Und es gab Täschle und seine Zeugin.
Liegen zu bleiben war angenehmer.
Sie musste kurz ohnmächtig gewesen sein. Als sie die Augen öffnete, kniete ein Mann neben ihr, der nicht Täschle war oder Bermann oder sonst einer der Kollegen und auch nicht einer der beiden Männer von vorhin. Tränen liefen ihr aus den Augenwinkeln, der Mann verschwamm, bewegte sich lautlos hinter einem Schleier. Sie spürte, dass er ihre rechte Hand von der Wunde löste. Sie blinzelte, sah jetzt besser. Der Mann war vermummt – schwarze Gesichtsmaske aus Stoff, Pullover in Tarnfarben. SEK-Leute sahen so aus, Soldaten, Mitglieder der GSG 9. Vielleicht Lisbeth Walters schwarze Horden bei Tag.
Vielleicht träumte sie auch nur.
Plötzlich kam der Mann über sie. Obwohl er bemerkt haben musste, dass sie wach war, sah er sie nicht an. Mit gesenktem Blick zog er ihr T-Shirt straff. Sie begriff, was er vorhatte, hielt still, als er den Stoff mit einem Messer auftrennte, half ihm, so gut es ging, sie aus den Ärmeln zu holen. Dann war er wieder neben ihr, wickelte das T-Shirt um die Wunde. Sie hörte sich vor Schmerz aufstöhnen, und der Mann verschwamm wieder hinter dem Schleier. Sie spürte, dass er ihren Arm sanft ablegte, die Hand auf den bloßen Bauch bettete. Als der Schmerz erträglicher war, bedankte sie sich. Aber der Mann reagierte nicht, war hinter den Tränen verschwunden, war vielleicht schon fort.
In diesem Moment hörte sie in der Ferne einen Hund bellen.
Das Leben davor, das Leben danach.
4
DER BEGEGNUNG mit dem mysteriösen Vermummten folgte eine mysteriöse Begegnung mit Rolf Bermann. Heinrich Täschle hatte sie gefunden und zum Bach zurückgeführt, um die Wunde zu säubern und neu zu verbinden. Lisbeth Walter hatte ihre rechte Hand gehalten und geweint, vielleicht mit ihr, vielleicht allein, das vermochte Louise nicht mehr zu sagen. Dann, urplötzlich, tauchte Bermann zwischen den Bäumen auf, hob sie hoch und eilte mit ihr auf den Armen den Hang hinunter. Er sagte kein Wort, schaute sie nicht an, obwohl er sie so – oben nur mit BH – noch nie gesehen hatte. In seiner Eile, seiner ernsten Miene spürte sie den Männerblick, gepaart mit Sorge und einer neuen, noch undefinierbaren Form der Zuneigung. Sie dachte darüber nach, dass es wohl in jedem Höllental ein Himmelreich gab und natürlich umgekehrt. Und darüber, dass Romantik offensichtlich mit der Kunst des Verdrängens zusammenhing. Sie beschloss, sich in den wenigen Minuten, in denen sie von Rolf Bermann gerettet wurde, in dieser Kunst zu üben.
Später lag sie, in eine Decke gewickelt, in einem Rettungswagen der Johanniter und starrte abwechselnd Bermann und Löbinger an, die vor der geöffneten Tür standen und schweigend zurückstarrten. Eine indische Ärztin mit kurzem schwarzem Haar hatte ihr eine Injektion verabreicht, die Wunde gesäubert, neu verbunden, kümmerte sich jetzt um die Kratzer an ihren Unterarmen.
Heinrich Täschle und Lisbeth Walter waren von Bereitschaftspolizisten nach Oberried gefahren worden. Täschle hatte beim Abschied gesagt, sie solle bald im Posten vorbeischauen, wegen Riedinger und Adam Baudy und überhaupt. Lisbeth Walter hatte gesagt, sie solle bald einmal zum Kaffeetrinken kommen. Louise hatte beides versprochen, obwohl sie die Vorstellung, allein mit Lisbeth Walter Kaffee zu trinken, eher ängstigte.
»Was war das?« Die Ärztin tippte mit einem Finger gegen die Narbe unterhalb ihres linken Schlüsselbeins. Für einen Moment war die Erinnerung wieder da. Natchaya und die nächtliche Flucht hinunter zum Rhein. Der kleine böse Freund, der aus der Dunkelheit gekommen und in ihr Fleisch eingedrungen war. Der falsche Osteuropäer, der gesagt hatte, die Sau lebt. Natchaya, die gesagt hatte, Sie können nicht die ganze Welt retten, retten Sie sich, und dann absichtlich daneben geschossen hatte.
»Ihr Blinddarm«, sagte Bermann.
Die Ärztin zog die Brauen hoch. »Auf Ihrer linken Seite ist nicht mehr viel Platz für Wunden, am besten
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