Bottini, Oliver - Louise Bonì 02
Zähringen gefahren, weil Louise in Herdern aufgetaucht war?
Sie verlangte den Wohnungsschlüssel. Der Hausmeister erschrak. Er wusste nicht, welche Rechte, Pflichten, Möglichkeiten er hatte. Und durfte sie ohne Durchsuchungsbeschluss überhaupt in fremde Wohnungen?
»Bis ich einen Staatsanwalt oder einen Richter am Telefon hab, ist Marion Söllien vielleicht tot«, erwiderte Louise, zog die H&K aus der Tasche, aus dem Holster. Sie hielt sie so, dass die Mündung nach unten zeigte. »Außerdem geht es manchmal nicht darum, was man darf, sondern darum, was notwendig ist.
Wenn Sie Schreie oder Schüsse hören, wählen Sie eins-eins-null. Und jetzt her mit dem Schlüssel.«
Sie rief das Führungs- und Lagezentrum an, ließ sich mit dem Polizeiführer vom Dienst verbinden, bat um Verstärkung. Der PvD trug ihr auf zu warten, bis die Kollegen eingetroffen waren.
Louise schwieg. Falls ihre Hypothesen stimmten, war vor einer Stunde ein Mann gekommen, der wusste, dass Marion Söllien eine Gefahr darstellte. Falls die Beobachtungen der Nachbarn stimmten, hielt er sich noch in der Wohnung auf. Dann brauchte Marion Söllien vielleicht Hilfe. Falls der Mann die Wohnung mittlerweile unbemerkt verlassen hatte, galt das Gleiche. Sie konnte nicht warten.
»Bonì?«, sagte der PvD scharf.
»Schon gut, ich warte, ich warte.«
Sie schob das Handy in die Hosentasche und stieg in den ersten Stock hinauf. Manchmal ging es nicht darum, was man durfte, sondern darum, was notwendig war.
Der Satz gefiel ihr. So gut, dass sie die Frage, wer bestimmte, was notwendig war, erst einmal verdrängte.
Auf dem Treppenabsatz bemerkte sie, wie still es im Haus geworden war. Die Nachbarn befanden sich in ihren Wohnungen, die Türen waren geschlossen. Sie glaubte ihre Blicke zu spüren, zu hören, dass sie den Atem anhielten. Und hinter der Tür von Marion Söllien? Stand dort auch jemand und hielt den Atem an?
Sie näherte sich der Tür von der Seite, blieb rechts davon stehen. Nun also doch die H&K, dachte sie, weil ihr plötzlich bewusst wurde, wie ungewohnt leicht die Waffe in ihrer Hand war.
Denk an die Unterschiede. Manche Kollegen verziehen. Zu weit links, zu tief. Immerhin dreizehn Schuss statt acht.
Sie schob den Schlüssel ins Schloss. Zweimal abgesperrt. Sie stieß die Tür auf, rief: »Polizei!«, wartete.
Nichts.
»Frau Söllien?«
Keine Antwort.
Sie atmete tief durch, betrat die Wohnung.
Ein schmaler Flur, rechts und links Türen, am Ende eine geöffnete Tür zu einem Wohnzimmer. Vor ihrem geistigen Auge sah sie Schatten, eine Tote, Blut, in ihrem Kopf gellten Schreie und Schüsse.
In der Wirklichkeit kein Laut, kein Mensch.
Vorsichtig arbeitete sie sich über Küche, Bad, Esszimmer, Schlafzimmer Richtung Wohnzimmer vor, fand niemanden, hörte nichts. Im Wohnzimmer dasselbe. Die Wohnung war leer.
Der Mann, der vielleicht von Herdern nach Zähringen gefahren war, hatte Marion Söllien nicht getötet.
Zumindest nicht in ihrer Wohnung.
Als die Kollegen der Schutzpolizei eintrafen, saß sie auf einer Couch, trocknete sich mit einem Küchentuch das schweißnasse Gesicht, schwor sich, den Nachbarn zu schlagen, den WuG zu schlagen, Günter zu schlagen und Bermann, wenn er ein falsches Wort sagte, dazu. Natürlich auch sich selbst.
Sie ließ einige Minuten verstreichen, rief dann erneut den PvD
an. Sie brauchte zwei Kollegen vom Fahndungsdezernat zur Observierung des Gebäudes und ein paar Leute vom Erkennungsdienst, die nach Fingerabdrücken suchten. Um den Durchsuchungsbeschluss würde sie sich selbst kümmern – die Staatsanwältin würde ohnehin an der Soko-Besprechung teilnehmen. Anschließend nahm sie sich den Nachbarn in der Wohnung links vor und fand heraus, dass er für einige Minuten im Keller gewesen war. In dieser Zeit mussten Marion Söllien und der Mann die Wohnung verlassen haben.
Sie wartete vor dem Haus. Wenig später kamen die Fahnder, und sie stieg zu ihnen in den Wagen. Matthias und Kilian, beide jung, kaum älter als Anatol, betont schlampig gekleidet, betont schlampig frisiert, die wilde neue Kriminalergeneration. Sie legte die linke Hand auf die Schulter von Matthias, der am Steuer saß, die rechte auf die Schulter von Kilian, instruierte sie.
Die alte Frau, die jungen Männer, und vielleicht, dachte sie, war es auch bei Anatol nur darum gegangen, um alt und jung, darum, dass sie so gerne noch eine Weile jung geblieben wäre.
Idiotisch war nur, dass sie sich, bevor sie Anatol in ihr Bett
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