Bottini, Oliver - Louise Bonì 02
da?«
»Keine Ahnung.«
»Ruf doch an.«
»Nein, ich rufe nicht an. Wir fahren hin, und wenn er da ist, wartest du zehn Minuten, und wenn er nicht da ist, fahren wir weiter.«
»Und wenn ihr mehr Zeit braucht?«
»Brauchen wir nicht, verdammt.« Sie ließ den Motor an.
Thomas Ilic blieb hartnäckig. Sie hatten sich seit Monaten nicht gesehen, nicht einmal miteinander gesprochen. Es gab so viel zu erzählen. Sie waren Vater und Tochter. Sie brauchten Zeit.
» Wofür denn, Herrgott?«
»Für euch.«
Sie sahen sich an, lachten gleichzeitig los. Der Halbkroate, die Halbfranzösin, sie hatten vieles gemeinsam, aber nur der Halbkroate war kitschig.
Zumindest tagsüber.
Dann stand sie vor dem Mietshaus, in dem ihr Vater seit dreizehn, vierzehn Jahren lebte, und verbrachte zwei von den zehn Minuten damit zu überlegen, ob sie tatsächlich klingeln sollte. Was sie sich zu erzählen hatten, ließe sich auch am Telefon erzählen.
Falls es überhaupt erzählt werden musste.
Und dann war da die Wut auf ihren Vater, der die Familiengeschichte umgeschrieben hatte, weil er der Wahrheit nicht ins Gesicht sehen wollte. Streits, Beschimpfungen, hysterische Auseinandersetzungen zwischen ihm und ihrer Mutter? Aber nein, Louise. Man könnte sagen, wir waren unterschiedlicher Ansicht.
Zehn hässliche Jahre getilgt, mit ihnen all das Leid. Germains Verzweiflung, ihre Verzweiflung.
Keine Handgreiflichkeiten. Keine Katastrophen.
Keine Eheprobleme, sondern gesundheitliche Probleme.
Deine Mutter war krank, Louise. Seelisch krank.
Quatsch.
Sehr, sehr krank.
So ein Quatsch, Papa.
Eine andere Geschichte, eine andere Familie.
Sie runzelte die Stirn. Telefonieren war besser. Sie würden nur streiten.
Aber wenn man schon mal in Kehl war …
Sie klingelte. Der Türöffner summte, die Gegensprechanlage blieb stumm. Sollte sie, oder sollte sie nicht?
Nein, dachte sie, und betrat das Treppenhaus.
Die Tür zur Wohnung ihres Vaters stand halb offen. Ein Junge lehnte am Rahmen und sah ihr entgegen. Sie blieb stehen.
»Hallo«, sagte sie überrascht.
»Hallo«, sagte der Junge.
Sie blickte auf das Namensschild an der Wand – BONI. Dann sah sie den Jungen an. Er war höchstens acht, hatte dunkle, lockige Haare, dunkle, skeptische Augen. Auf eine merkwürdige Art kam er ihr vertraut vor. Aber sie hätte geschworen, dass sie ihm noch nie begegnet war.
»Ich weiß, wer du bist«, sagte der Junge.
»Ach ja?«
Er nickte »Na, dann sag mal.«
»Du bist die Louise.«
Plötzlich wurde ihr flau im Magen. Sie wusste jetzt, weshalb ihr der Junge vertraut vorkam. Sie kannte die dunklen, lockigen Haare, die dunklen, skeptischen Augen. Sie hatte sie in einem anderen Leben an einem anderen Jungen gesehen.
Eine Hand am Geländer, setzte sie sich auf den Treppenabsatz.
Ihr Herz raste. Aus der Ferne der Erinnerung hörte sie die Stimme ihres Vaters. Germain?, rief die Stimme. Sie wollte erwidern, Germain ist bei Tante Natalie, aber sie brachte kein Wort hervor.
»Wir haben Fotos von dir«, sagte der Junge.
Sie nickte. Germain und sie am Ufer des Rheins. Germain auf den Schultern des Vaters, sie auf den Schultern der Mutter.
Germain und sie in Gérardmer. Fotos aus der Zeit vor der getilgten Katastrophe.
Germain?, sagte ihr Vater in der Erinnerung.
Der Junge verschwamm vor ihren Augen. Besser so, sie wollte ihn nicht sehen.
Plötzlich spürte sie eine leichte Berührung. Der Junge hatte sich neben sie gesetzt.
»Willst du gar nicht wissen, wer ich bin?«
Sie schüttelte den Kopf.
Dann sprach ihr Vater wieder, viel näher jetzt, er sprach Französisch, du darfst es ihm nicht sagen, um Himmels willen, du darfst es ihm nicht sagen, ich flehe dich an, du darfst es ihm nicht sagen!
Später stand sie am Fenster der kleinen Küche ihres Vaters, blickte auf eine kleine Parkanlage mit gestutzten Bäumen und bunten Blumen, lauschte auf die Stille in ihrem Kopf, die Stille in der Küche. Er hatte wieder geheiratet, er hatte wieder einen Sohn, er hatte auch diesen Sohn Germain genannt, er hatte ihr nie von seiner zweiten Frau und seinem zweiten Sohn erzählt.
Das war die ganze Geschichte. Eine einfache Geschichte. Und zugleich sehr kompliziert.
Viel zu kompliziert.
»Ich muss gehen, mein Kollege wartet unten«, sagte sie.
»Chérie, bitte …«, sagte ihr Vater.
Sie wandte sich um. Sie saßen am Küchentisch, hielten sich an den Händen und starrten sie an, ein kleiner alter grauer Mann, ein kleiner blasser Siebenjähriger. Ihr
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