Bottini, Oliver - Louise Bonì 02
Vater, ihr Bruder.
Ein anderer Bruder.
Zu kompliziert für heute, für diese Tage. Für dieses Leben.
»Ich muss gehen.«
Sie setzte sich ans andere Ende des Tisches.
»Chérie«, sagte ihr Vater. Der Junge sagte nichts. Sie konnte ihn nicht anschauen. Die Haare, die Augen … Immerhin, der Rest war anders.
Stattdessen sah sie ihren Vater an. Die Katastrophen getilgt, den Tod getilgt. Germain getilgt. Und vor sieben Jahren einfach mal eben so ersetzt.
Sie spürte plötzlich, dass sie ihren Vater auf eine eher unbestimmte Art mochte und auf eine sehr bestimmte Art hasste. Sie dachte: Ich muss gehen, und blieb sitzen. » Est-ce qu’il le sait? «
Ihr Vater schüttelte den Kopf. In seinen Augen lag plötzlich Panik. Du darfst es ihm nicht sagen. Das also hatte er gemeint.
Der andere Bruder wusste nicht, dass sie schon einmal einen Bruder namens Germain gehabt hatte. Die Lüge wurde fortgesponnen. Die falsche Geschichte wurde weitererzählt. Die richtige gab es nicht mehr.
Ihre Geschichte gab es nicht mehr. Alles war getilgt. Sie war getilgt.
Sie stand auf.
»Chérie«, murmelte ihr Vater.
Auf Französisch sagte sie, so wolle sie nicht leben, mit all diesen Lügen und Geheimnissen, die nur immer weitere Lügen und Geheimnisse erzeugen würden, Unaussprechliches, Tabus, wir produzieren Tabus, Papa, in Bezug auf unsere Vergangenheit, auf uns, unsere Identität, dabei wird nie was Gutes herauskommen, wie soll denn dabei was Gutes herauskommen? Die Lügen und die Tabus werden uns am Ende zerstören, nein, so will ich nicht leben, deshalb musst du dich entscheiden, Papa, entweder unsere Geschichte und mit mir oder deine Geschichte, aber dann ohne mich.
»Bitte setz dich doch, Chérie.«
»Ich muss jetzt gehen.« Sie setzte sich.
»Frag deinen Bruder, wie er heißt, Chérie. Wie er noch heißt.«
»Ich will’s nicht wissen.«
Ihr Vater beugte sich zu dem Jungen. »Germain, sag deiner Schwester, wie du noch heißt. Wie du mit zweitem Vornamen heißt. Du weißt doch noch, wie du mit zweitem Vornamen heißt?«
In den Augen ihres Vaters lag jetzt ein seltsamer Glanz, seine Lippen zuckten in ein Lächeln. Sie erinnerte sich vage. So sah er aus, wenn er stolz war.
Sie spürte den Blick des Jungen auf sich. Widerstrebend sah sie ihn an. Er wirkte verunsichert, hatte die Unterlippe umgestülpt. Auf einmal tat er ihr ein bisschen Leid.
»Na, komm, Germain, sag es ihr, bitte.«
Plötzlich begriff sie, worauf ihr Vater hinauswollte.
Sie nickte dem Jungen zu. Sag es ruhig. Das ertrag ich jetzt auch noch.
»Luis«, sagte der Junge.
Sie nickte erneut. Germain Luis Bonì. Da waren sie, alle wieder vereint, in der neuen, in der falschen Geschichte. Alle getilgt.
Sie bedeckte die Augen mit den Händen und begann zu weinen.
Thomas Ilic rettete sie. »Ich nehme den Zug.«
»Ich komme runter.« Sie steckte das Handy ein, schnäuzte sich, stand auf.
»Aber, Chérie«, sagte ihr Vater, »du kannst doch jetzt nicht gehen, es gibt doch so vieles zu besprechen. Du musst Karin kennen lernen, Germains Mutter, und Germain möchte seiner großen Schwester sicher seine Spielsachen …«
Germain.
Sie schüttelte den Kopf. »Das ist zu kompliziert, das ist mir alles viel zu kompliziert.« Sie sah den Jungen an. Die Unterlippe wanderte nach links, nach rechts, der Blick blieb unverwandt auf ihr. Sie seufzte. »Bringst du mich zur Tür?«
Er nickte.
»Wiedersehen, Papa.«
»Auf Wiedersehen, Chérie.«
»Chérie, Chérie, lass doch um Himmels dieses blöde ›Chérie‹
weg!«
»Entschuldige.«
»Chérie, Chérie, Herr gott. «
Der Junge führte sie durch den Flur, öffnete die Tür. Sie tippte ihm an die Schulter. »Jetzt weißt du, wies ist, eine große Schwester zu haben. Ist vielleicht gar nicht so toll, oder? Die schreien und heulen bloß.«
Der Junge zuckte die Achseln.
Sie wandte sich um. Ihr Vater war ihnen gefolgt. In seinen Augen stand wieder die Angst. Du darfst es ihm nicht sagen. Sie lächelte bitter. Er hatte sich entschieden. Die falsche Geschichte wurde beibehalten.
Sie tippte dem Jungen noch einmal an die Schulter.
»Wiedersehen.«
Der Junge nickte.
»Auf Wiedersehen«, murmelte ihr Vater.
Während sie ins Erdgeschoss hinunterstieg, dachte sie an die dunklen, lockigen Haare, die dunklen, skeptischen Augen. Für einen Moment kehrte schmerzhaft die Sehnsucht nach dem ursprünglichen, dem richtigen Germain zurück.
Dann, als sie ins Freie trat, sagte die Stimme ihres Vaters in ihrem Kopf: Er ist
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