Boy Nobody: Ich bin dein Freund. Ich bin dein Mörder. (German Edition)
hat mich öfter dorthin mitgenommen, wenn er zu arbeiten hatte. Dann saßen wir uns an seinem Schreibtisch gegenüber, während er Seminararbeiten korrigierte. Ab und zu blickte er auf und stellte mir eine Frage – über das Leben im Allgemeinen, über Freundschaft, überdie Schule – und wir diskutierten lebhaft darüber. Obwohl ich erst zehn Jahre alt war, brachte er mir bei, wie man seinen Verstand gebraucht.
Der Bürgermeister dreht sich um und sieht mich fragend an.
»Die meisten Leute haben doch gar keine Wahl«, sage ich. »Ich meine, welcher Normalsterbliche kann sich denn in dieser Gegend eine Wohnung leisten?«
»Da ist was dran.«
Er dreht sich wieder zum Fenster. Ich trete vorsichtig einen Schritt näher.
Aus dem Wohnzimmer hört man das Wummern der Bässe. Der Rhythmus ist jetzt langsamer.
»Sie glauben also, dass wir keine Wahl haben«, sagt er. »Dass unser Leben von äußeren Zwängen bestimmt wird?«
»Ja, schon.«
Ich muss an Sam denken. Wie sie sich heute Morgen im Geschichtskurs ereifert hat. Sie hat den gleichen kritischen Verstand wie ihr Vater.
»Aber wenn das Leben Ihnen die Entscheidungen abnimmt, wie können Sie da wissen, was Sie wollen?«, fragt der Bürgermeister.
»Vielleicht ist es gar nicht so wichtig, was man will.«
Ich trete noch einen Schritt näher. Der Nacken des Bürgermeisters ist jetzt dicht vor mir.
Jetzt bin ich auf Angriffsdistanz.
»Und doch sind es letztlich unsere Wünsche und Sehnsüchte, die unsere Persönlichkeit ausmachen«, sagt er. »Wenn man nicht weiß, was man will, wie kann man da wissen, wer man ist?«
»Vermutlich macht man das Beste aus seinen Möglichkeiten.«
Ich drehe die Kappe des Kulis nach rechts.
Er ist einsatzbereit. Einmal drücken tötet das Opfer. Zweimal drücken setzt es vorübergehend außer Gefecht.
»Vielleicht haben Sie recht«, sagt der Bürgermeister.
Ich drücke einmal auf die Kappe und die Kulispitze springt heraus, klein und tödlich.
»Bevor man eine Entscheidung trifft, gibt es immer einen kritischen Moment«, sagt er. »Der Moment, in dem einem bewusst wird, dass der eigene Entschluss auch für andere Menschen Konsequenzen hat, oder nicht?«
»Vielleicht ist das bei Ihnen so. Bei mir nicht.«
»Wieso?«
»Sie sind Bürgermeister. Ich bin nur ein Teenager.«
»Trotzdem treffen wir alle Entscheidungen. Und die haben Folgen.«
Entscheidungen
.
Auch mein Vater hat eine Entscheidung getroffen. Er hat die Seiten gewechselt.
Mangelnde Loyalität
nannte Mutter es. Sein Entschluss hat mein Leben für immer verändert.
Auch ich treffe Entscheidungen. Die das Leben anderer Menschen für immer verändern.
Sams Leben zum Beispiel. Und das des Bürgermeisters.
Ich stehe mit dem Kuli in der Hand hinter ihm und rühre mich nicht.
Warum denke ich ausgerechnet jetzt an das alles?
Eine schnelle Bewegung und die Sache ist erledigt. Und dann nichts wie weg aus dieser Wohnung, dieser Stadt. Weg von Sam.
Nur eine Bewegung.
Doch ich zögere.
Der Bürgermeister seufzt. Er dreht sich zu mir um.
»Nett von Ihnen, mir Gesellschaft zu leisten. Wie Sie sehen, geht mir zurzeit eine Menge im Kopf herum. Ich muss eine schwerwiegende Entscheidung für meine Zukunft treffen. Ich hoffe, ich habe Sie nicht allzu sehr gelangweilt.«
»Gar nicht. War nur teilweise ein bisschen zu hoch für mich.«
»Den Eindruck hatte ich aber gar nicht.«
Er sieht auf meine Hand.
»Was wollen Sie denn mit dem Kuli?«
In diesem Moment geht die Tür auf und Sam kommt herein.
»Was tust du denn hier?«, fragt sie.
Ich starre sie an.
Ich hatte meine Chance und habe sie vertan.
Ich drehe die Kulikappe nach links. Jetzt kann nichts mehr passieren.
Sam hat die Hände in die Hüften gestemmt und sieht mich fragend an.
»Was ich hier tue?«, sage ich. »Ich wollte mich gerade lächerlich machen und deinen Vater um ein Autogramm bitten.«
»Du bist im Privatbereich unserer Wohnung. Du hast hier nichts zu suchen.«
»Ich habe ihn hereingebeten«, sagt ihr Vater. »Und wir haben uns sehr angeregt unterhalten, stimmt’s?«
»Stimmt«, sage ich.
Er zwinkert mir zu.
»Ach so. Tut mir leid«, erwiderte Sam.
Der Bürgermeister erhebt sich und geht etwas steifbeinig auf Sam zu. Ein schlaksiger Mann mit aufrechter Haltung. Sam umarmt ihn liebevoll.
»Meine Tochter ist sehr besorgt um mich, müssen Sie wissen. Kennt ihr euch denn näher, mein Sohn?«
Ich bin nicht dein Sohn.
»Leider nicht. Aber ich arbeite daran.«
Der Bürgermeister lacht. Ein
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