Boy Nobody: Ich bin dein Freund. Ich bin dein Mörder. (German Edition)
Version seiner Erfolgsgeschichte. Das war vor fast acht Jahren. Damals ging ich in die dritte Klasse.
»Keine Ahnung, was er vorhat«, sagt Sam. »Mein Vater neigt dazu, einfache Dinge zu verkomplizieren. Meine Mutter war das genaue Gegenteil, aber jetzt … « Ihr Lächeln verschwindet. »Jetzt sind wir auf uns gestellt.«
Ihre Mutter. Ich erinnere mich an einen Artikel, den ich über den Unfall ihrer Mutter in Israel gelesen habe.
Sam starrt auf den Boden, zieht das Muster der Marmorfliesen mit dem Fuß nach.
»Alles in Ordnung?«, frage ich.
»Erinnerungen«, sagt sie. »Manchmal hasse ich sie.«
»Geht mir genauso.«
»Wirklich? Was für Erinnerungen hast du denn?«
Viele. Und alle sind gefährlich für mich.
Bevor ich antworten kann, steht plötzlich ein Mädchen mit leuchtend rotem Haar vor uns.
»Coole Party!« Sie strahlt uns an.
»Schön, dass du gekommen bist«, sagt Sam.
Die Rothaarige mustert mich eingehend, erkennt aber offenbar nicht den Neuen. Sie zögert, wartet darauf, dass Sam sie mir vorstellt.
Sie wartet umsonst.
»Dann lass ich euch zwei mal allein«, sagt sie schließlich und trollt sich.
»Noch irgendwelche Fragen zu meinem Dad?«, fragt Sam.
»Jede Menge.«
Ihr Gesicht verdüstert sich.
»Ich würde gern mehr über ihn erfahren, weil ich dich besser kennenlernen will.«
»Verstehe«, sagt sie und mustert mich eindringlich.
»Du versuchst die ganze Zeit rauszufinden, ob ich die Wahrheit sage.«
»Berufskrankheit.«
»Was für ein Beruf soll das denn sein?«
»Tochter eines berühmten Vaters«, sagt sie.
Aber ich frage mich, ob es nicht etwas anderes ist. Vielleicht
Mädchen, das von ihrem Ex verletzt wurde.
Oder
Mädchen, das seine Mutter verloren hat und keinem mehr traut.
Auf jeden Fall möchte ich nicht in ihrer Haut stecken.
Auf dem Weg zurück zur Party kommen wir an der Wohnungstür vorbei. Ich bleibe stehen und greife nach der Türklinke.
Heute Abend werde ich keine Gelegenheit mehr haben, an den Bürgermeister heranzukommen. Deshalb ist es wohl am besten, wenn ich mich jetzt verabschiede.
»Wo willst du denn hin?«, fragt Sam.
»Nach Hause.«
»Soll das ein Aprilscherz sein?«
»Nein, ich mein’s ernst.«
»Meine Party ist dir wohl zu langweilig, was?«
»Quatsch, ich bin einfach nur müde.«
Sam ist es offenbar nicht gewöhnt, dass ein Junge sie einfach stehen lässt. Ihr Gesicht verrät mir deutlich, dass sie nicht weiß, wie sie reagieren soll. Aber sie hakt nicht weiter nach.
»Na gut«, sagt sie. »Aber Erica wird bestimmt enttäuscht sein.«
»Frauen zu enttäuschen, ist anscheinend mein Schicksal«, sage ich.
Sie dreht eine Haarsträhne zwischen den Fingern.
»Und ich enttäusche Männer. Noch etwas, was wir gemeinsam haben.«
Ich öffne die Tür und gehe an dem Sicherheitsmann vorbei, der daneben postiert ist.
Während ich den Korridor durchquere, spitze ich die Ohren, zähle im Geist die Sekunden, bis Sam die Tür schließt. Bei einem guten Freund schließt man die Tür sofort. Bei einem Jungen, den man interessant findet, wartet man ein paar Sekunden. Und bei einem Jungen, in den man verknallt ist …
»He, Benjamin«, ruft sie.
Ich drehe mich um. Sie steht in der Tür, eine Hand am Türgriff.
Bei einem Jungen, in den man verknallt ist, bleibt man stehen. Man wartet und sieht ihm nach. Genau, wie Sam es gerade macht.
»Mich hast du nicht enttäuscht«, sagt sie.
»Noch nicht«, erwidere ich.
Aber spätestens wenn ich deinen Vater töte, werde ich dich enttäuschen.
Sie lächelt und winkt mir nach.
Ich betrete den Aufzug. Dann schließen sich die Türen hinter mir.
In der Eingangshalle muss ich mich aus der Liste austragen.
Ich mache einen Haken neben meinen Namen und nicke dem Wachmann zu, der mir eine gute Nacht wünscht.
Ein unauffälliger Junge verlässt eine Party. So war es gedacht.
Ich sehe mich um. Mein Körper ist entspannt, aber ich nehme meine Umgebung sehr bewusst wahr. Ich gehe ein paar Schritte, bleibe stehen, horche.
Nichts.
Während ich darauf warte, dass die Fußgängerampel auf Grün springt, ziehe ich die Karte des Bürgermeisters aus der Tasche. Oben ist ein geprägtes Siegel der Stadt New York.
Darunter steht in schwungvoller Schrift:
Meinem neuen Freund.
Nett, dich kennengelernt zu haben,
Jonathan Goldberg
Aufgesetzte Vertraulichkeit. Ein Politikertrick, aber ein guter.
Normale Leute wären von so einer Karte beeindruckt. Zumindest würden sie dem Bürgermeister bei der nächsten Wahl ihre
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