Boy Nobody: Ich bin dein Freund. Ich bin dein Mörder. (German Edition)
schreibt mir vor, was ich esse, wann ich ins Bett gehe oder was ich am Wochenende mache. Ich muss keinen Eltern Rechenschaft ablegen, muss auf keine kleinen Geschwister aufpassen, keinen Verwandten zum Geburtstag gratulieren. Ich muss mir keine Sorgen wegen meiner Noten machen oder um die Aufnahme ins College oder was ich später mal mit meinem Leben anfangen will. Ich bin völlig frei.
Aber andererseits ist alles, was ich tue, vorgegeben. Mein Leben wird vom Programm bestimmt.
Je mehr ich darüber nachdenke, desto klarer erkenne ich, dass es mit meiner sogenannten Freiheit nicht weit her ist. Seit Mike eines Tages in meiner Schule aufgetaucht ist, gehört mein Leben nicht mehr mir.
»Ich sehe, du denkst darüber nach. Du weißt, dass ich recht habe, stimmt’s?«, sagt Sam. »Du hast noch nie eine eigene Entscheidung getroffen.«
Da habe ich so was wie einen Geistesblitz.
»Doch, eine einzige Entscheidung hab ich selbst getroffen«, sage ich.
»Und welche?«
»Dich zu küssen.«
Für eine Sekunde ist Sam sprachlos.
Dann fragt sie: »Wann hast du denn das beschlossen?«
»Gerade eben.«
»Tatsächlich? Habe ich in dieser Sache auch was mitzureden?«
»Was gibt’s da zu reden?«, sage ich und küsse sie. Ein erster, langer Kuss, der meine Haut zum Prickeln bringt.
»Wow«, sagt sie. »Du hast mich überzeugt.«
Sie zieht meinen Kopf zu sich und wir küssen uns noch einmal, leidenschaftlicher als beim ersten Mal.
Danach ringen wir beide nach Luft, während unsere Körper aneinandergepresst sind.
Ich sehe Sam in die Augen und plötzlich denke ich an das Mädchen aus dem Supermarkt. Die mit den blauen Augen.
Du wirst danach denken, dass du mich liebst
, sagte sie.
Aber du täuschst dich.
»Benjamin«, flüstert Sam.
Einen Moment lang weiß ich nicht, wen sie meint, aber dann fällt es mir wieder ein.
Und dann fällt mir auch wieder mein Auftrag ein.
Sam ist in meinen Armen, ihr warmer Körper dicht an meinen geschmiegt, ihre Lippen so nah, dass sich unser Atem vermischt.
»Du warst eben ganz abwesend«, sagt sie.
»Ich hab Angst, mich in dich zu verlieben.«
Das sprudelt einfach aus mir heraus, ein Gedanke, den ich normalerweise nie jemandem anvertrauen würde.
Sam fährt mir mit den Fingern durchs Haar.
»Ich bin froh, dass du mir das gesagt hast. Ich hab auch Angst.«
»Wovor hast du Angst?«
»Erst du«, sagt sie.
»Es gibt viel, was du nicht von mir weißt«, antworte ich. »Wer ich bin. Der Grund, warum ich in New York bin.«
»Ich weiß mehr, als du denkst«, sagt sie.
»Was denn?«
Sie berührt meine Brust.
»Ich weiß, was da drin ist«, sagt sie. »Vielleicht ist ja alles andere auch egal.«
Ich denke darüber nach. Ich wünschte, es wäre so, aber ich glaube es nicht.
»Was ist mir dir?«, frage ich. »Warum hast du Angst?«
»Ich möchte dir nicht wehtun.«
»Wieso solltest du mir wehtun?«
»Du wärst nicht der Erste.«
Ich denke an den Artikel in der
Daily News
, den Howard mir gezeigt hat.
»Du hast also schon mal jemanden verletzt?«, frage ich.
Sie nickt.
»Mit Absicht?«
»Nein.«
»Dann ist es vielleicht nicht so wichtig.«
»Heute Abend ist nichts wichtig. Findest du nicht auch?«
»Ich glaub schon.«
Sie berührt mein Gesicht, fährt sanft mit dem Finger über meine Lippen.
»Wann kommen deine Eltern zurück?«, fragt sie.
»Sie sind verreist.«
»Wie praktisch.«
»Finde ich auch.«
Sie öffnet den Bademantel und sofort sind sämtliche Zweifel und Bedenken verschwunden. Mein Auftrag, das Programm, alles ist plötzlich bedeutungslos.
Sam hat recht. Nichts ist heute Abend wichtig.
Nur wir beide.
Das Unwetter hat sich verzogen.
Das Licht der Leuchtreklamen glitzert im leichten Nieselregen.
Sam und ich gehen Hand in Hand die Straße hinunter, dicht nebeneinander, unter demselben Regenschirm.
Irgendwo ertönt eine Hupe, gefolgt von quietschenden Bremsen. Ein livrierter Portier taucht aus einem Gebäude auf, die nicht angezündete Zigarette schon im Mund.
Neben uns fährt ein Taxi durch eine Pfütze, wir springen schnell zur Seite. Auf dem Dach des Taxis steht ein Werbespruch:
Wo mein ♥ ist, da bin ich zu Hause
Ich denke über den Begriff nach. Zu Hause.
In meiner Kindheit hatte ich ein Zuhause, in ferner Zukunft werde ich vielleicht auch eins haben, das Programm war eine Art Zuhause.
Aber jetzt bin ich hier. Zusammen mit Sam.
In Sams Gegenwart fühle ich mich zu Hause.
Ein Blitz holt mich in die Wirklichkeit zurück.
Sam hält ihr Handy
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